Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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einer elenden Kammer. Muß er doch jede Woche noch zwei blanke Gulden zurücklegen!“
„Für Weib und Kinder?“ – unberbrach ich meinen Erzähler.
„O, wenn es dazu geschähe, dann könnte er noch gerettet werden! Doch schon lange denkt er nicht mehr an die verlassenen Seinen. Ein böser Traum hat ihn gelehrt, daß ihm sein Glück auf schwarzem Grunde blühe. Jeden Sonntag und jeden Donnerstag erscheint er daher, ermattet von Entbehrung, matter noch durch den dreistündigen Weg, im Kreise der Spieler und wirft gewohnheitsmäßig seine Gulden auf noir. Verliert er ihn, dann geht er, wie Sie ihn gesehen, augenblicklich davon, um seinen beschwerlichen Rückweg anzutreten; gewinnt er aber, dann läßt er das Gewonnene und den Einsatz stehen und treibt dies so lange, bis die Teufelskrücke des Croupiers das Feld ihm räumt. Der Blödsinnige lebt des irren Wahns, daß er auf diese Weise sicher einmal seine 60,000 Gulden wieder gewinnen werde.“
Unterdeß hatten wir mein Gasthaus erreicht. Ich ging in den Speisesaal zum Soupé und überblickte im Geiste noch einmal das eben Gesehene und Gehörte. Am Längsten verweilte meine Seele bei dem unglücklichen Irren, der jetzt in dunkler Nacht seiner öden Kammer zuschritt, und ich hätte vielleicht noch lange mir sein Bild vorgehalten und noch lange seiner Sorgen und Mühen um die zwei Gulden gedacht, die er nächste Woche als Sold der Leidenschaft einzeln wieder hierher bringen muß – hätte mich nicht plötzlich das Knallen der Champagnerpfropfe zu mir selbst geführt. Beamte der Spielbank ergötzten sich beim schäumenden Nectar, sich erfreuend ihres Glücks und süß hinträumend in bacchantischer Lust. Nur einen Traum verstanden sie nicht oder wollten ihn nicht verstehen: den Traum vom Glück auf schwarzem Grunde.
„Der traurige Zustand der türkischen Armee in Asien, bei welcher ich, wie Ihnen bekannt, gleich vielen andern Europäern Dienste nehmen wollte, schreibt uns ein junger Freund, den die Kriegslust nach dem Orient getrieben, verleidete mir den Aufenthalt im Hauptquartiere gar bald, und Sie werden sich darum nicht wundern, wenn Sie erfahren, daß ich meinen Wanderstab weitersetzte, ebensowenig, daß hier, in dem sagen- und alterthümerreichen Lande die Lust an meine Lieblingsstudien neu erwachte. Bekanntlich soll hier die erste Stadt der Welt gebaut worden sein, und zwar von Noah. Die Armenier nennen sie Nachitschiwan (das erste Niedersteigen oder Landungsplatz), und Noah bauete sie mit seinen Kindern, nachdem sie die Arche auf dem Ararat verlassen hatten. Auch Eriwan, Aguri u. a. Städte versetzt die Ländersage in die Zeit Noah’s zurück.
Ich reißte zuerst von Kars[WS 1] nach dem schönen See von Wan zu, der so groß sein mag wie das Marmor-Meer und zwei Inseln umspült, auf denen große armenische Klöster gebaut sind. Der Weg zieht sich lange an dem blauen kleinen Meere hin, das leider nicht von Schiffen und Böten belebt ist wie in alter Zeit. Die Gegend ist so schön, daß ich den Reisenden vor mir beistimme, welche sie für die schönste in Asien erklären. Die Stadt Wan selbst liegt in einer großen Ebene, welche mit Dörfern und Gärten überstreut ist und an zwei Seiten von imposanten Bergen begrenzt wird, auf die man eine unbeschränkte Aussicht hat. Eine sehr merkwürdige Erscheinung ist der kahle Felsen, der dicht neben der Stadt Wan mitten aus der Ebene schroff und allein emporsteigt, so daß man ihn für einen Bau von Menschenhand halten könnte, zu den ihn die Sage auch machen will.
Die große Königin Semiramis von Ninive soll ihn durch ihre Tausende von Sclaven haben aufbauen lassen. Das ist nun zwar sicherlich nicht der Fall; das Andenken an Semiramis hat sich aber in diesen Gegenden bis zum heutigen Tage erhalten, und unwahrscheinlich ist es nicht, daß sie das Castell auf dem Felsen, so wie die Stadt bauen ließ. Der größte Geschichtschreiber der Armenier, der gelehrte Moses von Chorew, spricht sehr ausführlich von der Anwesenheit jener berühmtesten Herrscherin des Alterthums in Armenien, von dem Entzücken, in das sie bei dem Anblicke des reizenden Landes gerathen, von den großartigen Bauten, die sie da ausführen ließ, namentlich von ihrem Palaste auf dem Felsen und den Sälen, Niederlagen von Schätzen, Gallerien u. s. w., in dem harten Gestein. „An allen Wänden des Felsens ließ sie Inschriften eingraben, um ihr Andenken für die Zukunft zu bewahren,“ bemerkt er zum Schluß.
Diese Inschriften in Keilschrift sind noch heute erhalten, es ist aber sehr beschwerlich und gefährlich zu denselben zu gelangen. Unser unglücklicher Landsmann Schütz, der 1827 da war, wagte es, auf den Resten der Treppe, die sonst auf den Gipfel des Berges führte, hinaufzusteigen und die Inschriften zu copiren. Man muß an Ort und Stelle sein, um beurtheilen zu können, wie heroisch sein Unternehmen war, denn die Reste der Treppe sind schmal und bröckelich, die Felsenwand aber ist so steil und glatt, daß an ein Anhalten daran nicht zu denken ist, und die Inschriften befinden sich in einer Höhe von vielleicht hundert Fuß.
Die Citadelle, welche den Gipfel des Berges krönt, gewährt eine der herrlichsten Aussichten, war aber bis ganz vor Kurzem in dem traurigsten Zustande; erst in der neuesten Zeit hat man Einiges für sie gethan. Leider fehlt es ganz an Wasser oben, das auf dem Wege an der Nordseite des Berges hinaufgetragen werden muß. Bis vor den Ausbruch des jetzigen Krieges bestand die Besatzung aus einem alten Türken, welcher Niemanden ohne spezielle Erlaubnis des Paschas hineinläßt und die Vertheidigungsmittel waren einige alte Kanonen auf zerbrochenen Lafetten. Dieser alte Vertheidiger der Citadelle hatte indeß den Auftrag, von Zeit zu Zeit eine der Kanonen zu laden und über die Stadt hin lozuschießen, damit die Bewohner derselben in dem Wahne erhalten würden, es befände sich eine furchtbare Geschützmacht da oben.
Ich sende Ihnen eine Bleistiftzeichnung dieser merkwürdigen Festung, die Sie vielleicht noch durch eine bessere in irgend einem englischen oder russischen Reisewerke befindliche Abbildung verbessern können. Morgen denke ich den Ararat zu besteigen und sämmtliche Merkwürdigkeiten des noch so unbebauten Armeniens zu besuchen. Auch an „Reisebildern“ für Ihre Leser wird es nicht fehlen, ich müßte den Räubern oder Russen in die Hände fallen und das Leben oder die Freiheit verlieren.“
Ueberbevölkerung! Massenarmuth! Pauperismus! so heißt das furchtbare Gespenst, dessen Alpdruck auf der modernen Gesellschaft lastet, das sich an die Fersen der vorwärtseilenden Civilisation heftet, und auf ihr stolzes Triumphgeschrei mit Jammertönen antwortet, das dem Menschenfreunde die Freude an den Fortschritten menschlichen Erfindungsgeistes, an den Siegen menschlicher Kunst über die lebenszerstörenden Kräfte der Natur, an dem blühenden Emporwachsen neuer Geschlechter vergällt durch den Gedanken, daß fast jeder dieser Fortschritte eine Menge fleißiger Hände außer Thätigkeit setzt und zahlreiche Familien ihres gewohnten Erwerbes beraubt, daß die längere Lebensdauer, welche der Mensch der Natur abringt, den sich immer dichter zusammendrängenden Existenzen mehr und mehr die Stätte ihres Daseins und die Gelegenheiten ihres Fortkommens verengt, und daß von
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Fars
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_062.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2023)