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Seite:Die Gartenlaube (1855) 035.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

um stets jedem Russen, der sich eine Blöße giebt, pünktlich und sicher das Lebenslicht auszublasen. Das französische Laufgräben- und Erdwallsystem ist eine angewandte Belagerungs-Mathematik, deren Figuren von einem besondern Bureau aus gezogen werden mit dem doppelten Zwecke, das Lager zu schützen und den Batterien des Feindes immer näher zu kommen. Der wissenschaftliche und dirigirende Mittelpunkt dieser Tirailleur-Taktik befindet sich in der Mitte der Laufgräben auf einer Anhöhe, wo ein sonderbares Haus mit einem Glockenthurme, genannt das „Belfry-Haus,“ als Bureau und zugleich als Apotheke und ärztliches Centrum für die Tirailleurs dient. Jeder Verwundete kann von hier aus stets schnell und sicher ärztlichen Beistand und Medicin erhalten, während im englischen Lager die Aerzte athemlos überall umherirren und gewöhnlich da fehlen, wo nur schnelle Hülfe vor Verblutung und Tod retten könnte.

In diesem Belfry-Hause ließ sich auch unlängst ein französischer Offizier mit einem griechischen Mädchen von außerordentlicher Schönheit trauen. Er hatte den Schatz in einem griechischen Dorfe unweit Balaklava entdeckt und die schöne Festung sofort mit dem Feuer und den Flammen seines Herzens bestürmt (denn Worte und Ueberredung erwiesen sich als effectlos, da er kein Wort Griechisch, sie kein Wort französisch verstand), daß er drei Tage nach Sicht siegte und einen Popen halb zwang, den Bund in einer ihm ganz unverständlichen Sprache einzusegnen. Der Pope ließ sich hinreißen, bereuete aber hernach feinen Segen aus Furcht vor der russischen Kirche, unter der er trotz seines besondern Glaubens stand, und als ihn der glückliche Ehemann noch besonders belohnen wollte, stellte sich heraus, daß er flüchtig geworden. Der Vorgesetzte hat den erotischen Eroberer mit seiner jungen Schönen nach Constantinopel geschickt, damit er dort seiner Flitterwochen froh werde und sich mit der Frau unterhalten lerne. Ein hübscher, drastischer Stoff für den Novellisten, eine Schäferidylle mit Kugelregen, Aechzen der Sterbenden und Gekreisch der Verwundeten, ein Beweis, daß Liebe unter den ungünstigsten Verhältnissen und nationalen, sprachlichen, confessionellen, ökonomischen und mit giftischen Hindernissen noch ihre siegende Allgewalt geltend zu machen weiß. Die schöne Braut hatte nur einen einzigen, und zwar nicht sehr anziehenden Anzug mit verwitterten Borden und Kanten am abgeschabten Sammet-Mieder, aber desto anziehender erwieß sie sich selbst für den kleinen Tirailleur-Lieutenant, indem sie ihren Geliebten liebt und ihren Beschützer verehrt, nachdem ihr Dörfchen mit allen ihren Jugendfreundinnen verschwunden war. Die meisten Bewohner ihres Dorfes hatten sich unter Weinen und Wehklagen auf einem englischen Schiffe nach Yalta bringen lassen, die Liebe hielt sie in einem andern Dorfe, Karani, unweit des St. George-Klosters, zurück, bis sie getraut, eine neue Heimath hinter den – französischen Laufgräben fand.

Jetzt eine kurze Wanderung durch Balaklava. Worte sind nicht im Stande, eine Vorstellung von deren Schmutze, deren Schrecken, Hospitälern, Begräbnissen, Todten und Sterbenden, ihren engen, von Gestank, Kanonen, schmutzigen Mischungen von Türken und Engländern überfüllten Gäßchen, ihren lärmenden Schuppen, Läden und ruinirten Häusern, ihren bestialischen Umgebungen und Massengräbern zu geben. Die Dichter der Pestilenzen, von den ägyptischen an bis zu Boccaccio, de Foe und Moltke bleiben in ihren fürchterlichsten Schilderungen Stümper gegen die Scenen, welche sich während der ersten halben Stunde in Balaklava aufdrängen. Die Türken haben aus jedem Gäßchen eine Kloake knietiefen Schmutzes gemacht, gemischt mit Lumpen, Abfällen von Kleidern, Speisen, Menschen- und Thierleibern. – Welch ein Aechzen, Stöhnen, Schnauben, Beten, Jammern und Schreien hinter diesem zerfetzten Segel, das statt eines Thores den Eingang zu einem alten Schuppen schützt? Es ist ein türkisches Hospital. Hast Du Muth, den Vorhang zu lüften? Einen Blick hinein und Du siehst mit einem Male, wie die Türkei gerettet wird. Da liegen sie haufenweise, dicht in einander geschichtet, Todte und Lebendige durch einander. Die verwesungs- und prophetengebetschwere Luft findet nur spärliche Auswege durch die zugigen Ritzen und Spalten des Gebäudes und drückt den nicht „Gewöhnten“ mit dem ersten Athemzuge erstickend zusammen. Da stöhnen und beten und winden sich noch Unzählige zwischen den Todten, aber sie ersticken und zerdrücken sich alle – alle – alle. Keiner kommt lebendig heraus aus dieser lebendigen Massengruft, denn kein Arzt, keine Medicin, kein Trost, kein Atom gesunder Luft kommt hinein. Sie werden dann alle offen auf rohen Bahren hinausgetragen. Die geschwollenen, blutigen, entstellten, zum Theil halb verwes’ten Gesichter der langen Reihen von Todten auf den Schultern, skelettartiger, bleicher, schwarzbärtiger Lebendigen starren entsetzlich zum Himmel, das duftigste Gebet für den großen Allah und seinen Propheten und die Aristokratie von England, welche so für ihn Krieg zu führen weiß. Draußen vor der Stadt wird den Leichen das aus Nase und Mund geronnene Blut abgewaschen, etwas Oel eingeflößt, ein Gebet gesprochen und drei Zoll hoch Erde aufgeladen. So wurden Tausende begraben. Unter der dünnen Schicht hervor erhob sich die Pestilenz, so daß endlich das englische Ober-Commando strenge Befehle gab, die Todten tief zu begraben. Cholera und Lazarethfieber würgen unsichtbar und dauernd seit der Zeit von Varna mehr Tausende nieder, als jemals die Russen mit ihren hunderttausend Läufen und Kanonenschlünden niederzuschmettern im Stande waren. Seit dem 28. November werden jeden Morgen große Haufen Choleraverewigter aus dem Schmutze des englischen Lagers hervorgezogen. Und was thut man dagegen? Nichts. Was wird man dagegen thun? Nichts.


Und für die, welche in unsern Skizzen etwa Uebertreibung finden wollen, diene zuletzt zur Nachricht, daß kein Wort hier steht, das nicht von Ort und Stelle, von Augenzeugen gekommen und durch den einstimmigen Schrei der ganzen noch lebenden Armee, welche England mit Briefen und Schilderungen überschwemmt, die alle Tage in den Zeitungen massenweise veröffentlicht werden oder privatim circuliren, bekräftigt und noch durch Thatsachen übertrieben würde. Und für dieselben noch ein Paar Worte in Uebersetzung aus der Times, welche bisher diese englische Regierung unterstützte: „Die große Armee drängt sich mit ihren verklagenden Briefen zur Presse rücksichtslos gegen die Folgen von Seiten der Obern, da es nur noch gilt, Rettungsversuche für das nackte Leben zu machen. Einstimmig bekunden diese Briefe die totale Desorganisation unserer Armee, die schreckliche Gefahr für ihre bloße nackte Existenz, in welche sie nicht durch die Russen, sondern durch die regierende, befehligende englische Aristokratie gestürzt ward. Napoleon’s und Wellington’s Augen und Worte und Personen und Befehle und Ermuthigungen waren überall, Lord Raglan hat sich seit der Schlacht bei Inkerman noch nicht ein einziges Mal sehen lassen. Die Armee ist auf halbe Rationen gesetzt, einige Regimenter hatten seit zwei Tagen gar keine Nahrung erhalten. Gegen Regen, Kälte, Hunger, Wunden und Krankheit giebt es keinen Schutz. Die Zahl der so umgekommenen braven Krieger geht in’s Schreckliche. Sie liegen zum Theil in Schmutz selbst begraben mit 4000 gefallenen Pferden, über welche die Skelette der noch Lebenden mit Schaudern schreiten. (Heu und Hafer schwamm unlängst tausendcentnerweise am Gestade oder vermoderte im Regen.) In der französischen Armee, der zweifachen Anzahl, sieht Alles gesund und musterhaft aus. Man hatte hier sogar auch Ueberfluß an musterhaften Transportwagen für Verwundete, so daß man einige davon den Engländern lieh,“

„Und was soll nun geschehen? Nichts, sagen die Conservativen und Privilegirten auch jetzt noch. Eher kann die ganze Armee verenden, als man das System des Verkaufs von Offizierstellen an die Aristokratie, die Patronage, das Avancement nach Geburt, Rang und Alter, die Illusion der militärischen Ordnung von vierzig Friedensjahren aufgiebt, wenn nur Lord Raglan mit seinem Stabe, der jetzt unsichtbaren Elite der Aristokratie, belorbeert, befördert, betitelt, monumentirt und reich pensionirt zurückkehrt.“ – Diese Sprache in dem mächtigsten, conservativen Organe der Presse bedeutet und wirkt etwas: den Prozeß der Zerstörung von Illusionen und Einrichtungen und Gesetzen, auf welche die Privilegirten seit Jahrhunderten ihre Macht, ihr Ansehen, ihre Popularität zu gründen und auszubauen verstanden.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_035.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)