Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Der jetzige Kriegsschauplatz zwischen Inkerman, Balaklava und dem Chersones bildet in seiner geologischen Oberfläche eine entsetzlich entsprechende Grundlage für die winterlichen Kriegs- und Lagerscenen. Der Boden sieht hier wirklich so aus, wie ihn sich die Geologen lange vor den ersten Menschen dachten als Tummelplatz amphibischer Ungeheuer und Schlamm-Monstrositäten, Ichthiosaurier, Plesiosaurier und sonstiger Vorfahren von Krokodilen und Alligatoren. Ein baum- und vegetationsloser öder, zäher, schwarzbrauner Schlamm mit Deichen und Pfützen, aus denen in liederlicher Unordnung öde Steinmassen und Höhen hervorragen. Von Anhaltpunkten für das an Civilisation gewöhnte Auge, von Wegen, Feldern, winkenden Dörfern und Städten, von Bäumen und Vegetationsbildern anderer Art ist keine Spur mehr zu entdecken. Die Wildniß, wie sie Jahrtausende vor dem ersten Buch Mosis auf der Erde herrschte, ist wiedergekehrt, und durch die Wildniß watet schmutzig und zerlumpt, hungrig und verstümmelt, ungewaschen und unrasirt der Krieg westlicher Civilisation gegen östliche Barbarei. Aber er watet nicht durch den bloßen „Urbrei,“ aus dem die jetzige geologische Erdrinde sich bildete, der Urbrei ist reichlich durchknetet mit abgerissenen Gliedern von Pferden und Menschen, halbverwes’ten und halbtodten Gefallenen, Rädern, Kugeln, Stangen, Stroh, Kleiderfetzen, Blut, Bruchstücken von Waffen, tiefgeschnittenen Wagengleisen, tausenden kleinen Pfützen, welche die Hufe der Pferde traten, deren Stapfen in dem zähen Breie ausgedrückt blieben und sich mit Wasser und Blut und Schnee füllten. Unter diesem entsetzlichen Gemisch von Vorwelt und Gegenwart sitzt traurig und mürrisch der knurrende, wilde Hund auf angefressenen Cadavern, an Verdauungsbeschwerden leidend und gleichwohl futterneidisch mit emporschielenden Augen die Geier und Adler verfolgend, welche in unabsehbaren Schaaren über ihm schweben und kreisen. Der Himmel spannt sich trostlos über den Leichen- und Raubvögeln und regnet, schneit und stürmt erbarmungslos auf Todte, Sterbende, Erkrankende und Gesunde. Hier und da schimmern Waffen, blitzen Kanonen auf und knattern Salven bald näher, bald ferner. Dort sinkt ein abgemagertes, um und um schmutzbedecktes Pferd unter dem Reiter oder vor dem Lastwagen in den Schmutz und stirbt lautlos und ergeben. Hier ist es ein leichenfarbiger, zerrissener, wildbärtiger Krieger, der zusammenbricht, sich noch mühsam bis an einen Stein hinschleppt, um seinen Kopf wenigstens auf einen trockenen Pfühl zu legen und so zu sterben. Andere Soldaten winden sich an ihm vorbei, werfen ihm einen mitleidigen Blick zu und lassen ihn liegen, da sie selbst sich kaum noch fortschleppen können.
Zwischen dem Lager und Balaklava – einer Entfernung von etwa einer deutschen Meile, welche durch Sümpfe und Pfützen, Hügel und breiige Thäler zu zehn Meilen wird, winden sich auf die jämmerlichste Weise Wagen mit Lebensmitteln und einzelne Offiziere, die aus Privatmitteln eingekauft haben. Der unermeßlich reiche Sohn des Lords, zu Hause kein Paar Handschuhe zweimal anziehend, alle Tage zweimal rasirt und und dreimal die Kleider wechselnd, tritt hier in denselben Kleidern, mit denen er am 27. September an’s Land stieg und die seitdem niemals von seinem Leibe kamen, so weit sie nicht abrissen und abfielen, hinter einem Schmutzhügel hervor, bekränzt um die Schultern mit einer Reihe Zwiebeln, mehrere Würste über dem Arme, eine Ente in der einen und einen holländischen Käse in der andern Hand. Der tornisterblonde Bart umwaldet sein sonst stets musterhaft glattes Kinn, besternt mit Schmutz von Unten bis Oben über die Mütze. Für die Ente bezahlt er 6 Thaler, für den Käse 3, für die Zwiebeln das Sechsfache der Londoner Apfelsinenpreise. Und dabei wird er von Allen beneidet, die Geld, aber nicht Kraft genug hatten, bei den Gaunern von Balaklava einzukaufen. Die Dienerschaften aus Griechenland, Konstantinopel, Armenien u. s. w., die anfangs in Masse herbeiströmten, um den Offizieren zu dienen, verließen nach der Schlacht bei Inkerman fast gleichzeitig wie auf Verabredung das Lager, wie Ratten ein untergehendes Schiff, so daß, wer große Geldmassen hat, wie die meisten höheren englischen Offiziere, selbst durch den meilenweiten Schmutz waten muß, um in Balaklava mit Gold als Leckerbissen zu kaufen, was zu Hause der letzte Proletarier nur im Nothfalle für einen halben Penny an sich bringt, um die äußersten Grade des Hungers zu stillen. Von England aus und auf dem Papiere ging Alles in reichlicher Fülle, aber es kam nicht an, oder an unrechte Orte und in Schiffen, die aus dem Labyrinthe im und vor dem Hafen nicht herauszufinden sind, so daß man täglich Pferde und Menschen todt peinigen muß, um nur halbe Portionen von Balaklava nach dem Lager zu bringen. Ueber die beispiellose Nachlässigkeit, Liederlichkeit und Anarchie der englischen Verwaltung zu Wasser und zu Lande haben sich alle englischen Correspondenten von Ort und Stelle und unzählige Privatbriefe hinlänglich ausgesprochen, so daß man, so unglaublich auch manche Einzelnheiten klingen, nichts mehr bezweifeln kann So groß die Tapferkeit der gemeinen Soldaten, so himmelschreiend ist die Unordnung und Kopflosigkeit in Führung, Leitung und Versorgung derselben von Seiten der Aristokratie, die alle höhern Militär-Posten an sich gekauft hatte und als ein Privilegium gegen bürgerlichen Zudrang zu schützen wußte, worüber bekanntlich durch den Prozeß gegen den bürgerlichen Lieutenant Perry schauderhafte Lichter aufgingen. Die England regierende Aristokratie, welche 5600 Millionen Thaler Kriegsschulden machte und vierzig Friedensjahre dirigirte, stets in Freundschaft und zu Gunsten eines Staatenprinzips, als dessen Ideal Rußland verehrt wird, verliert jetzt im Volke durch den Krieg gegen Rußland mehr, als sie durch ihre russenfreundlichen Kriege und Friedens-Diplomatien für ihre Interessen und Privilegien zu Hause gewann, so daß für Den, welcher den Krieg nicht blos aus Zeitungsbruchstücken zusammensetzt (ein Wald, vor dem man die Baume nicht sieht), schon jetzt eine aus dem Pulverdampfe hervortretende und über Leichen schwebende Nemesis deutlich wird.
„Sieht man doch gleich am Hause, weß Geistes darinnen der Herr sei.“ Während man über die Ordnung, Reinlichkeit und Fülle im französischen Lager nicht Lobes genug erheben kann, ist das englische Lager ein Chaos unzureichender, zerrissener Zelte, die auch, wenn sie ganz sind, dem Regen und Schnee nur als Sieb dienen, durch welches es nur um so dichter und sicherer regnet und schneit. Die meisten Zelte hatte der Sturm weggeblasen, während der Franzose, der sein Zelt, wie die Schnecke sein Haus, mit sich herumträgt, jeden Abend sicher und warm schläft. Diese Zelte, deren immer je drei Mann eins auf dem Gepäck tragen, erweisen sich jetzt als ein unermeßlicher Segen. Die je drei Mann schlagen ihre Schlafstelle in drei Minuten auf und brechen sie eben so schnell wieder ab, nachdem sie geschützt und warm darunter geschlafen. Den allerunbeholfensten wilden Umsturz der Menschheit versinnlichen die englischen Offiziere beim Kaffeekochen. Man zermalmt die ungebrannte Bohne zwischen sandigen Steinen, so daß sich unter diesem Prozesse der Kaffee bedeutend um Sand und Müll vermehrt, und kocht ihn in Barbierbecken oder Waschgefäßen, um den bittern Kelch ohne Zucker und Milch zu leeren. Die ungebrannte Bohne! Ja, es fehlt an Holz, das vergebens tausende klafterweise die Felsen von Balaklava und die noch ganz gebliebenen Schiffe zerstieß. Niemand dachte daran, diese noch kostbaren Trümmer sturmzerschmetterter Schiffe herauszufischen, um sie zum Kaffeebrennen und als Universalmittel gegen den häufigen Tod des Erfrierens anzuwenden.
Im französischen Lager bewegt sich Alles wie ein wissenschaftliches Uhrwerk, selbst Todtschießen, Todtgeschossen- und Begrabenwerden. Ziemlich regelmäßig attackirt man russische Posten jede Nacht zweimal, Abends 9 Uhr und dann gegen Morgen, wobei in der Regel 40–50 Mann fallen. Muster soldatischer Disciplin und Tapferkeit sind besonders die Tirailleurs oder Scharfschützen mit ihrem System von Laufgräben und Erdwällen, die sie den russischen Batterien, wie Kaninchen unter der Erde hinwühlen, immer näher zu rücken wissen. Immer je 12 Stunden liegen sie hier in Reih und Glied auf dem Bauche, unter ihren emporstehenden Mützenschirmen scharf über das Feld vor ihnen auslugend,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_034.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)