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Seite:Die Gartenlaube (1855) 010.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

daß aus diesem Munde mit den ironischen Winkeln etwas Anderes als neckender Hohn heraus kommen könne. Man ist erstaunt den Mann ernst reden zu hören und glaubt am Ende, daß selbst dieser Ernst nichts als Scherz sei.

Herr Thiers spricht viel, unterscheidet sich aber von den meisten Redseligen dadurch, daß er auch viel zuhört, wenn Andere sprechen. Er erzählte von seinen Reisen durch Deutschland, um die dortigen großen Schlachtfelder bei Jena, Leipzig, Wagram zum Gebrauch für seine Geschichte zu betrachten. Er sprach vergleichend von Wien und Berlin, und ich mußte finden, daß er eben so wie seine Landsleute sammt und sonders von deutschem Leben und Empfinden, deutscher Kunst, deutscher Anschauungsweise und deutschem Charakter keinen Begriff habe, und daß er so wie die Andern sein Urtheil über unser Land und Volk in die fertigen französischen Phrasen zwängt, die auf unsere Verhältnisse und Zustände gar nicht anzuwenden sind. Nur die Pointen, welche mit unterliefen, gehörten dem geistreichen Redner an.

„In Berlin ward ich frostig aufgenommen," erzählte er, „ich weiß nicht ob daran meine ausgesprochenen Rheingelüste oder das nordische Klima und der sandige Boden, der keinen Wein hervorbringt oder gar die deutsche Philosophie, welche in der Stadt an der Spree so übermäßig von Jung und Alt, von allen Ständen und Geschlechtern getrieben wird, Schuld waren. In Wien wurde ich viel gastfreundlicher empfangen. Man schien an der Donau viel mehr meine rednerische als meine politische Richtung zu berücksichtigen. Selbst Herr von Metternich war sehr zuvorkommend und behandelte mich wie einen berühmten Künstler. – Wien machte auf mich den Eindruck eines Fashionable, der sich nur um Vergnügen und Zerstreuung, um Tänzerinnen, Schauspielerinnen, Pferde, Tafel und Lustparthien kümmert und gerade so viel von Bildung erhascht, als zu einem angenehmen Verkehr erforderlich. – Berlin hingegen kam mir wie ein Stubengelehrter vor, der viel weiß und viel denkt; aber immer morose und ein schlechter Gesellschafter ist.“

Eine ganze Stunde war ich bei Herrn Thiers geblieben; sie war wie eine Minute verflogen und als ich ihn verließ, da schwirrte es in meinem Kopfe von tausend Gedanken, welche durch die Unterhaltung mit dem Exminister angeregt und belebt wurden.

Ich fand bei Herrn Thiers eine leichte Weise des Benehmens, welches die Mitte hält zwischen Intimität und Vornehmthuerei. Die Conversation wurde durch ihn so rasch angeknüpft, so lebhaft geführt, daß sich alles Gezwängte und Peinliche einer ersten Begegnung im Nu verlor, und was ich besonders anziehend an dem politischen Kobold fand, der Europa fortwährend geneckt, ist das große Interesse, welches er an allen Fragen nimmt oder zu nehmen scheint, die er im Gespräche zur Verhandlung bringt. Er läßt Einen immer fühlen, daß er sich belehren lassen wolle und gesteht dadurch Jedem, der mit ihm spricht, ein Stückchen Ueberlegenheit zu. Dieser eigenthümliche Kitzel der alltäglichen Eitelkeit hat dem begabten Manne auf seiner politisch-constitutionellen Laufbahn wesentliche Dienste geleistet, indem er ihm Anhänger und Stimmen gewann.

Louis Adolph Thiers ist am 16. April 1797 zu Marseille, der südlichen Seestadt, geboren. Sein Vater war ein Hafenarbeiter von nicht ganz untadelhaftem Lebenswandel, aber seine Mutter war die würdige Tochter einer ehrenwerthen Kaufmannsfamilie und von dieser Seite hat Herr Thiers eine ausgezeichnete Verwandtschaft; denn André Chenier, der berühmte Poet und Girondist, war sein Vetter. Die große Dürftigkeit, in welche die Familie seiner Mutter verfiel, erklärt die ungleichartige Verschwägerung.

Als Napoleon I. den Universitätsunterricht in Frankreich einführte, war Thiers gerade in dem Alter, seine Studien zu beginnen. Er trat in das Lyceum zu Marseille mit einem kaiserlichen Stipendium versehen, das ihm seine Mutter ausgewirkt. Im Anfange überließ er sich ganz seinem Muthwillen und kümmerte sich wenig um die Wissenschaft. Er hatte fortwährend Zank und Streit mit seinen Mitschülern, und selbst seinen Lehrern gegenüber ließ er es an der schuldigen Achtung fehlen. Man erzählt, daß er es sich einmal beikommen ließ, Pech auf den Stuhl seines Professors zu legen, um ihn, wie er sagte: „unabsetzbar“ zu machen. Ein andermal zog er während der Vorlesung einen jungen Kater aus seinem Pult, dessen Pfoten er in Nußschalen gesteckt hatte, und ließ ihn unter dem Tische los. Erschreckt durch das Geklapper der ungewohnten Fußbekleidung, sprang das Thier mit kläglichem Geschrei wüthend umher. Man denke sich den Aufruhr in der Schule. Der Unruhstifter ward zu acht Tagen Haft verurtheilt. Die Strafen wirkten nicht; aber eine Zurechtweisung, in welcher man dem Alumnen die Wohlthat vorhielt, die er leichtsinnig vergaß, verletzte und demüthigte ihn so sehr, daß sie eine plötzliche Umwandlung in seinem ganzen Wesen hervorbrachte. Diese Demüthigung machte den Knaben ernst, arbeitsam bis zur Unermüdlichkeit, besonnen. – Ein wunderbarer Charakterzug bei einem Kinde. Von nun an erhielt der kleine Thiers fortwährend und bis zum Jahre 1815 den ersten Preis in seiner Klasse.

Durch die Vorbereitungsschulen gelangt, ging er nach Aix, um daselbst die Rechte zu studiren. Frei von jenen Fesseln, die ihm die kaiserliche Unterstützung angelegt hatte, gab er sich seinen Widerstandsgelüsten auf eine ernstere Weise hin, als früher, wo er durch muthwillige Streiche Professor und Mitschüler in Aufruhr gebracht. Die politische Bewegung, die zu jener Zeit überall hin, in jedes Dorf, in jede Gemeinschaft, in alle Geister eine strenge Scheidung brachte, riß ihn in ihre Wirbel fort, und in einem Alter von 18 Jahren war Thiers, seiner unansehnlichen Aeußerlichkeit zum Trotz, Mittelpunkt, Führer der liberalen Partei unter seinen Mitschülern, denen sich andere gleichgesinnte junge Leute anschlossen. Die unbedingten Anhänger der Bourbons unter den Bürgern sowohl als unter den Schülern und Professoren haßten auf’s Bitterste den jungen Rebellen, dessen Wort sich schon damals geeignet zeigte zu überreden, hinzureißen und besonders zu überführen. Der junge Mann arbeitete mit einem Eifer und einer Ausdauer, die man seinem leichten beweglichen Geiste gar nicht zugemuthet hätte; er übte sich auf’s Anhaltendste im Denken, im Ordnen und Ausdrücken seiner Gedanken.

Die Akademie zu Aix schrieb einen Preis auf die beste Lobrede zu Ehren des berühmten Marquis von Vauvenargués aus. Der angehende Jurist behandelte die Aufgabe. Er besorgte zwei Kopien der Ausarbeitung, von denen er Eine unter der üblichen Form der Akademie zustellte und die Andere seinen intimsten Freunden vorzulesen sich das Vergnügen bereitete.

Die Mitbewerbung des kleinen Thiers um den Preis blieb nun kein Geheimniß. Auch gelang es den Akademikern, von denen ein Theil den Bourbons eben nicht ergeben war, Zeichen zu erhalten, an denen sie die Arbeit des gehaßten Gegners zu erkennen vermochten. Auf diese Weise geschah es, daß die Stimmen getheilt waren und die Preisvertheilung vertagt wurde.

Das nächste Jahr legt der kleine Revolutionair ganz einfach die bekannte Arbeit der Akademie vor. Die Richter sehen sich gezwungen, ihr ein „accepit“ zuzuerkennen. Mit dem Preise gekrönt wird eine Lobrede Vauvenargués, die aus Paris gekommen war, und auf die alles Lob der gelehrten Gilde ohne Unterschied der politischen Meinung geschüttet wurde. Welches war das Erstaunen der Preisrichter, als sie das Siegel von dem Papier, das den Namen des Verfassers einschloß, rissen und unsicher zaudernd „Adolph Thiers“ lasen, der die Sendung der Rede von Paris aus veranstaltet. Der vollgedrängte Saal bricht in ein lautes Gelächter aus. Die Akademiker senken beschämt und geärgert die Blicke. Die politische Leidenschaft mischt sich nun in die Angelegenheit, und der Preisgekrönte wird von den Einwohnern zu Aix im Triumphe durch die Straße getragen.

Für den jungen Thiers gab es nur einen Weg, den er einschlagen konnte: den nach Paris.

Als er seine Rechtsstudien vollendet hatte, machte er sich in der That mit seinem Freund und Schulkameraden Mignet auf die Reise, und sie gingen Beide nach der Haupt- und Residenzstadt an der Seine, nach dem Mekka des Ehrgeizes, nach dem Eldoraldo aller glücksuchenden Franzosen. Herr Thiers mußte nach Paris gehen, denn diese Stadt und dieser Mann sind wie für einander geschaffen. Beide unbeständig, beweglich, rastlos, fieberhaft, in stetem Wechsel mit Neigung und Leidenschaft, gehören zusammen. Der junge Pilger brachte nach dem Ziel seiner Wallfahrt nichts mit als seine 20 Jahre, die Gabe der Rede, die Preisschrift im Koffer, schimmernde Schlösser, wie sie die Jugend baut, in der Seele und den festen Willen, emporzukommen, so hoch es geht.

Die Tempel des Glückes zu Paris haben eiserne Thüren, in die man auf dreierlei Arten zu gelangen vermag, entweder durch einen goldenen Schlüssel, der alle Thüren öffnet, durch Kraft, welche zertrümmert, oder indem man geschmeidig hexenhaft

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_010.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)