verschiedene: Die Gartenlaube (1854) | |
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empfängt es Dampfschiffe, Waaren und Menschen von der alten Welt und der alten in der neuen für New-Orleans und die ganzen Mississippistaaten, kleinere Schiffe gehen den Ohio noch weiter hinauf bis Wheeling und Pittsburgh, von wo die Eisenbahn lebendige Schlagadern bis Philadelphia und Baltimore bildet. Dabei ist an die großartige Wasser- und Landstraße über Seen, durch Kanäle und Eisenbahnen zu erinnern, deren großen Auswanderungsstrom wir bei Cleveland sahen. Dies zusammen zeigt uns Cincinnati als Mittelpunkt eines ungeheuern neuen Kulturkreises, dessen Radien im Osten am atlantischen Meere, im Westen durch ungeheuere Steppen und üppige Prairieen, im Norden durch die rasch aufblühenden Gegenden und Länder an den großen Seen (Ontario-, Erie-, Huronen-, Michigansee) und im Süden bis zum Golf von Mejico hinlaufen. Und hiermit haben wir endlich wieder ein „geschlossenes Bild,“ verehrter Freund Keil, nach welchem Sie in Ihrer letzten Zuschrift eine so große Sehnsucht zeigen. Freuen Sie sich mit mir, daß Cincinnati, die deutsche Königin des Westens, Mittelpunkt dieses gigantischen, neuen Civilisationskreises ist, die strahlende, wärmende, nährende Sonne dieses neuen Planetensystems von Städtesternen mit ihren Dorftrabanten.
Als diese Sonne und versorgende Mutter eines Europa übertreffenden Ländergebietes hat Cincinnati Fabriken und Industrie-Anstalten, welche alle Colosse Englands hinter sich lassen, besonders deutsche Tischlerei. Ich war in der Meubelfabrik von Mitschell (Engländer) und Rommelsberg (Deutscher) mit 5 Stockwerken, welche zwei Straßen einnehmen. Hier regieren 250 Könige über Maschinen, die für mindestens 1000 gelernte Tischler arbeiten. Hier giebt man einer riesigen Dampfmaschine, die in die Höhe, Breite und Tiefe überall hin mit unzähligen Sägen, Hobeln, Drechselbänken, Polirsteinen u. s. w. spielt, unten rohe Bäume, wie sie aus dem Urwalde kommen, um sich von ihr dafür Tische, Stühle, Bettstellen, Commoden u. s. w. am entgegengesetzten Ende herausgeben zu lassen. Die Maschine macht allein wöchentlich 200 Dutzend Stühle. Im Jahre 1853 hatte sie 124,800 geliefert; außerdem 2000 Commoden, 1700 Tische u. s. w. und Wiegen für die neuen Weltbürger in ungezählten Dutzenden. Ich wünschte, ich hätte nur so viel technische Kenntnisse, um mit deutlichen Worten und den richtigen Ausdrücken zu erklären, wie genial die Maschine die Stuhlsitze zu formen und auszumulden verstand. Wo sie den Witz dazu herbekam, begreife ich heute noch nicht. Jeder der 250 Arbeiter (d. h. Präsidenten von Maschinendepartements) verdiente wöchentlich 12–20 Doll. d. h. 16–28 Thlr. – In der größten Glorie stehen hier die deutschen Kunstdrechsler. Ein deutscher Drechsler in der erwähnten Tischlerei bekam wöchentlich 30 Thaler und hatte sich schon ein Vermögen von 5000 Dollars d. h. 7000 Thalern erdrechselt. – In der Bettstellen-Fabrik von Mudge, in der alle Factoren und Dirigenten Deutsche sind, werden jährlich über 50,000 Bettstellen fertig. Dieser Production für Meubles der neuen Ankömmlinge entsprechen die in Eisen, Kleidern, Hausgeräthen, Schuhen und Stiefeln, Werkzeugen und Lebensbedürfnissen aller Art. In einer Sohlenfabrik waren 1852 10,000 Ochsenhäute zu Sohlen verschnitten, in einer Schuhfabrik 500 Centner Schuhnägel und 600 Scheffel Holzzwecken verbraucht worden. Alle diese Stückchen in die Wirthschaft und ganzen Wirthschaften mit ganzen Häusern dazu (in Koffer verpackt) wandern stets von der Stadt herunter nach dem wimmelnden, bewimpelten, dampfschiffschnaubenden Bollwerk, um von hier aus nach allen Radien des Kreises neue Herde und Häuslichkeiten zu versorgen und neues Heimathsgefühl zu schaffen.
Von dem hölzernen Schuhnagel bis hinauf zu dem feinsten Haus- und Luxusgeräth wird Alles mit Maschinen gemacht. Das versteht sich in Amerika allemal von selbst, so daß ich’s hiermit ein für allemal gesagt haben will. In der Maschinenfabrik der Herren Burows sah ich ein Viereck von 4 Fuß, eine Mühle, welche mit drei Pferdekraft jede Stunde 16 Scheffel Getreide in das feinste Mehl verwandelt. Der deutsche Bauer unweit Cincinnati verkauft deshalb auch sein mit der Maschine gemähtes und gedroschenes Korn nicht mehr, sondern mahlt es selbst vermittelst der Maschine, so daß er ganz sicher ist vor dem Winde und den diebischen Händen des alten deutschen Müllers.
Doch wo bleibt Cincinnati als „Metropolis der Schweine“ aller vereinigten Staaten? Die Sache ist einfach die, daß jeden Herbst 12–15,000 Schweine und 3–4000 Ochsen aus Nah und Fern zu Wasser und zu Lande nach Cincinnati kommen, um sich hier schlachten, einpöckeln, räuchern und in alle Welt versenden zu lassen, ohne daß sie dazu nur einmal quieken. Wenn der deutsche Bauer sein Weihnachtsschwein schlachtet, läßt er’s quieken, daß man’s am andern Ende des Dorfes hört. In Cincinnati sterben sie alle stumm, da sie fabrikmäßig in den Palästen von Schlachthäusern hervorgezogen und jedesmal erst mit einem Hammer auf den Kopf todtgeschlagen werden, ehe sie verbluten.
Von den 300 Weinbergen um Cincinnati, welche 1852 über 1200 Gallonen Wein gaben, den 200 Scheffeln Erdbeeren, die im Sommer täglich auf den Markt gebracht und in Eis verpackt bis New-York und New-Orleans (350 deutsche Meilen) versandt werden, von allen Sorten hiesiger und fremder Biere und Spirituosen „mit deutschen Zeitungen,“ den deutschen Vereinen, Clubs, Lesezimmern, Kunstausstellungen, der „jungen Männer-Association“ mit einer Bibliothek von 14,000 Bänden, von dem Wohlstande und der Bildung, wo die Schule ein Recht jedes Gebornen ist, von der großen Zukunft der Königin des Westens mach’ ich hier weiter keine Worte, da mir Alles als sich von selbst verstehend vorkam. Nächstens aus und über New-York.
Das Panoptikon in London.
Das endlose Labyrinth von Häusern und Straßen, Menschen und Thieren, Wagen mit Pferden, Eseln, Dampf und Menschen, von Geschäften, Leiden und Freuden, zerrissenen und vereinten Bestrebungen und Strebenden, Hungernden und Uebermästeten, von Wissenschaft, Kunst und Literatur, von Compagnien, Associationen und Instituten mit zum Theil erdumgürtenden Wirkungskreisen – London – bleibt auch den darin Lebenden und Altwerdenden ein Labyrinth, wenn man dessen Organismus und Anatomie nicht zu begreifen weiß.
Man muß bestimmte Hauptpunkte, die allgemein bekannt sind, als Einheiten annehmen und danach weiter messen und rechnen, etwa wie es die Omnibusse machen, die immer von der „Bank“, von „Regent-Circus“, Charing Croß“ u. s. w. an ihre Passagiere taxiren. Die Bank und Regent-Circus erweisen sich denn auch als die beiden Haupt-Brennpunkte von ganz London, ersterer zugleich als Centrum des Geld machenden, letzterer des Geld verzehrenden, genießenden Haupttheiles, des Westendes.
Von diesen beiden Herzkammern laufen nach allen Seiten Hauptschlagadern des Verkehrs, so daß man sich von dieser aus bald in jeden Winkel finden lernt. Desto leichter wird es uns werden, von Regent-Circus aus, die Regentstreet hinunter in den langen, kunterbunten Strom aller Nationen und der zweideutigen Vertreter derselben, die fortwährend um den weltberüchtigten Leicester Square herumwimmeln, hineinzusteuern. Es genügt hier nicht, rechts eine Scylla und links eine Charybdis für unsere Taschen und Tugenden zu vermeiden: das Verderben umlauert und umlungert, umbettelt und umsingt, umspielt und umstrahlt uns hier in tausenden unbekannter Formen und Verkleidungen. Im allerunschuldigsten Falle kauft der Unerfahrene ein Mikroskop für ein Penny (das übrigens nach Dickens ganz gut sein soll) oder einen Damenhut. Wenigstens ist es dem Nichtabgehärteten gewiß schwer, vor einem paradirenden Regiment aufgeputzter Hutläden, jeder mit einer oder mehreren ziemlich häßlichen Verkaufs-Sirenen vor der Thür geschmückt, vorbeizukommen, ohne von zwei oder drei Seiten gepackt und zum Kaufen angesungen zu werden. Dabei drohen dir zwischen den blendend erleuchteten Läden überall dunkele Courts (in Straßen verwandelte Höfe zwischen Häusern) wie Kanonenmündungen entgegen. Und dann kommt gar die Windmillstreet, mit dem allnächtlichen Balle des Lasters in Sammet und Seide, mit den strahlenden Lichtern und Gesichtern und dem gewissenlosen
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_639.jpg&oldid=- (Version vom 21.12.2020)