verschiedene: Die Gartenlaube (1854) | |
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Muß ich Dich an eine unglückliche Vergangenheit erinnern, die nie, nie wieder beregt werden sollte?“
Dem armen Vater traten die Thränen in die Augen.
„Sie erinnern mich, Mutter, an die unglücklichste, aber seligste Zeit meines Lebens; zugleich aber auch an einen Ihrer Grundsätze: der Verstand müsse das Herz beherrschen. Zweifeln Sie nicht, daß ich diesen Grundsatz nicht befolgt habe – hier steht Victor, der in der Schule des Lebens gereifte Mann, er tritt Ihnen nicht als ein tollkühner Knabe unter die Augen. Ich bin zu der Erkenntniß gelangt, daß es völlig gleich ist, ob man als ein Opfer des Herzens, oder ein Opfer des Verstandes fällt. Nur wenn Herz und Verstand Hand in Hand gehen, läßt sich Ersprießliches erwarten. Die kalte Berechnung tödtet nicht minder, als die heftigste Leidenschaft. Während Sie für Ihre Enkelin sorgten, sorgte ich mit Muth und Verstand für meine Tochter – ein Jeder von uns nach seiner Ansicht. Aber das Auge des Vaters sieht weiter, als das der Großmutter – –“
„Und was hat Ihr Vaterauge gesehen?“ fragte spöttisch der Junker.
Victor sah mit stolzen Blicken im Kreise um sich her.
„Hier ist weder eine Person zu viel, noch zu wenig, um einen vollgültigen Beschluß über Klementine’s Schicksal zu fassen. Der Zufall, wenn wir die Vorsehung nicht gelten lassen wollen, hat ein wunderbares Gericht zusammengeführt. Antworten Sie mir, Mutter: was bleibt von dem gnädigen Junker übrig, wenn wir ihm sein ererbtes Vermögen abziehen? Was hätten Sie gesagt, wenn Ihre Enkelin, die heute glänzend verlobt wird, morgen an der Seite dieses Mannes der Armuth preisgegeben würde? Antworten Sie mir, Mutter, nach Ihrem Gewissen! Antworten Sie mir nach Ihrem Verstande! Ist es möglich, daß es für ein junges, lebensfrohes Mädchen, auch wenn wir den Zustand ihres Herzens nicht berücksichtigen, ein gräßlicheres Loos giebt?“
„Diese Annahme, Victor –!“ stammelte Frau von Falk.
„Es ist keine Annahme, Mutter, es ist die herrlichste Gewißheit! Der Baron Edmund von Below ist nicht der Erbe seines Bruders!“
„Das Gericht hat erkannt!“ lächelte der Junker. „Ein rechtskräftiger Beschluß kann nicht angefochten werden, auch wenn Bosheit und Tücke alle Mittel anwenden.“
„Das Gericht erkennt, mein Herr Baron, wenn kein Testament vorhanden ist.“
„Ganz recht! Mein Bruder ist plötzlich am Schlagflusse gestorben.“
„Aber nicht ohne Testament, und dieses Testament hat mein Vaterauge entdeckt!“
„Victor,“ stammelte Frau von Falk, „die Sache ist zu ernst, um eine solche Mystifikation zuzulassen.“
„Hören Sie mich an, Mutter. Das Unglück und ein falsches Ehrgefühl trieben mich in die weite Welt hinaus. Ich nahm in der Fremdenlegion Dienste, die Frankreich nach Algier schickte. Wenn ein verzweifelter Muth Ehre ist, so sind hier die Beweise meiner wiederhergestellten Ehre!“ rief Victor, indem er mit der flachen Hand die beiden Orden auf seiner Brust berührte. Der Capitain von Falk, der genug erworben zu haben glaubte, kehrte mit einer kleinen Pension in sein Vaterland zurück. Er kam nach Berlin, und fragte bei dem Pathen nach seinem Kinde, da ihn ein feierliches Versprechen hinderte, die Mutter zu sehen. Der Baron Balthasar von Below empfing den französischen Capitain, wie er es erwarten durfte, und um ihn zu ehren, um ihn für die von seinem Bruder erlittene Kränkung zu entschädigen – Victor sandte einen stechenden Blick auf den Junker – lud er ihn ein, das Testament als Zeuge zu unterschreiben, das er ahnungsvoll an demselben Tage aufgesetzt hatte. Es ist für gewisse Fälle, sagte der wackere Balthasar, ich kann es immer wieder vernichten, wenn es nöthig wird. Dann verschloß er das Papier in seinem Secretair. Beruhigt über das Schicksal meiner Tochter kehrte ich nach Frankreich zurück. Die Revolution, die eine Republik schuf, beraubte mich, den Ausländer, meiner Pension, aber man ließ mir meine Orden. Die Sehnsucht trieb mich abermals nach meinem Vaterlande – ich kam an demselben Tage in Berlin an, als die Zeitungen den Erben des plötzlich verstorbenen Balthasar bezeichneten, da ein Testament nicht vorhanden sei. Durfte der einst ausgestoßene Offizier auftreten, und von der Unterzeichnung eines Testamentes sprechen? Mußte man ihn nicht einer erbärmlichen Rache zeihen und schmählich abweisen, da der Erbe derselbe Mann war, der ihn einst wegen Ausstellung eines falschen Wechsels – er hatte ihn aus Eifersucht dazu gemacht, weil er sich ebenfalls um meine theure Julie beworben – weil er ihn angeklagt, und so sein Verderben bereitet hatte? Nur mit Beweisen konnte der arme Capitain auftreten. Mutter,“ sagte Victor treuherzig, „Rache ist mir fremd, ich hätte nie daran gedacht, den Erben zu verdrängen, wenn es mir das Wohl meines Kindes nicht zur Pflicht gemacht hätte. Ich näherte mich Klementinen, sie erkannte mich wieder, und von ihr erfuhr ich, daß sie liebte, daß sie aber denselben Mann heirathen sollte, der vor zweiundzwanzig Jahren ihrer unglücklichen Mutter nachgestellt hatte. Sie besuchte mich fast täglich in meiner verborgenen Wohnung, aber sie war mir gehorsam und verschwieg Ihnen meine Anwesenheit. Jetzt galt es, mit Beweisen in der Hand hervorzutreten, um zu zeigen, daß die Rechnung eine falsche war, und daß meine Klementine an dem Rande eines Abgrundes stehe. Daß der Verstorbene das Testament vernichtet hatte, bezweifelte ich; es mußte entweder gestohlen, oder verloren gegangen sein. Ich erinnerte mich des Secretairs genau, der, wie ich gesehen, ein künstlich verborgenes Fach enthielt. Dieses Fach allein konnte mir Aufschluß geben. Wie aber sollte ich dazu gelangen? Wer würde mir gestatten, die Möbel zu öffnen? Mußte man mich nicht für einen böswilligen Verleumder halten, wenn eine offizielle Nachsuchung vergebens war? Dasselbe Mittel, das der lüsterne Bräutigam zur Verblendung der Braut anwandte, sollte mir Licht schaffen. Ich erfuhr, daß die alten Möbel des Verstorbenen verkauft werden sollten, um neuen Platz zu machen – Klementine’s kleine Ersparnisse vervollständigten die Kaufsumme – ich miethete in einer abgelegenen Straße eine geräumige Wohnung, ließ die erkauften Sachen dorthin schaffen, zertrümmerte die beiden Secretaire, die sich dabei befanden, und – hier ist das Testament, von der Hand des Verstorbenen verfaßt, und von dem Capitain von Falk als Zeuge unterzeichnet.“
Triumphirend hielt Victor ein Papier empor.
„Mutter,“ sagte er dann, „ich habe kein Recht, Ihren Anordnungen zu widersprechen; aber Ihrem Prinzipe gemäß müssen Sie von einer Verbindung Klementine’s abstehen, die der Verstand nicht billigen kann. Der Lieutenant Ernst von Below ist der Erbe – Klementine, Du kennst ihn, gieb ihm sein rechtmäßiges Eigenthum.“
Victor gab seiner Tochter das Papier; diese empfing es zitternd, und überreichte es Ernst.
„Klementine, Klementine!“ rief er im Uebermaße seiner Gefühle aus und indem er zu ihren Füßen niedersank, „jetzt ist mir Alles klar! Der Himmel selbst öffnet sich, um mich seine reinste Heilige schauen zu lassen! Kannst Du meiner heißen, maßlosen Liebe den Argwohn verzeihen?“
Er bedeckte ihre Hand mit glühenden Küssen, und sah flehend zu ihr empor. Sie neigte sich zu ihm hinab, und flüsterte weinend: „Ich habe Dir nie gezürnt, Ernst; aber ich konnte nicht anders handeln!“
In den Augen der Großmutter erglänzten Thränen, denn sie sah in diesem Augenblicke erst, welch ein Opfer von Gehorsam die liebende Enkelin ihr gebracht hatte.
„Mutter,“ fragte Victor, „darf der Capitain von Falk Sie nach Hause begleiten?“
„Mein Sohn, ich gebe Dir Deine Tochter zurück,“ sagte sie ernst. „Und Sie, Herr Baron,“ sagte sie zu dem Junker, „werden sich an den Capitain wenden müssen – ich habe keine Rechte mehr an Klementine. Ich bitte um Ihren Arm, Capitain!“
„Vergönnen Sie mir, daß ich noch ein Wort an den ersten Urheber meines Unglücks richte, bevor ich Ihnen gehorsam bin,“ sagte Victor. „Rache ist mir fremd, mein Herr,“ flüsterte er in einer gräßlichen Bitterkeit dem leichenblassen Junker zu; „aber ich halte mein Versprechen, wenn es im Reiche der Möglichkeit liegt. Ich versprach Ihnen vorhin, Ihnen zur geeigneten Zeit die Thür zu öffnen – treten Sie in den Saal, Herr Baron, ich erfülle mein Versprechen!“
Und Victor öffnete rasch die Thür. Dann bot er seiner Mutter den Arm, und führte sie durch das Boudoir auf den Corridor hinaus. Ernst und Klementine folgten Arm in Arm. Ein schnell herbeigebrachter Wagen brachte sie in die Wohnung der Frau von Falk.
Der Junker sank betäubt auf einen Stuhl. Sein Kammerdiener brachte ihn zu Bett, und die Gäste schlossen den Ball ohne den Gastgeber, von dem sich das Gerücht verbreitet hatte, daß er plötzlich krank geworden sei.
Sechs Wochen später war der Prozeß entschieden, den Ernst auf Grund des vorgefundenen und für richtig anerkannten Testaments
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_455.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)