verschiedene: Die Gartenlaube (1854) | |
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darf es je erfahren, damit wir ihr Zartgefühl nicht verletzen. Ich werde über meine Kranke wachen, Herr Morel, und nur wenn ich mich überzeugt habe, daß keine Gefahr mehr zu fürchten ist, ziehe ich mich zurück. Aber bis dahin bin ich der unerbittlich strenge Arzt, der alle unheilvollen Einflüsse mit starker Hand entfernt. Jetzt ruft mich mein Amt – leben Sie wohl, Herr Morel, und erinnern Sie sich dieses Morgens, so oft Sie Raimund’s Haus betreten.“
Der Doctor Friedland ergriff seinen Hut, verneigte sich, und verließ das Haus.
Julius sah ihm einige Augenblicke gedankenvoll nach, ohne sich von seinem Platze zu bewegen.
„Das war eine Drohung!“ flüsterte er. „Der Doctor muß sehr genau unterrichtet sein, er würde sonst diesen Ton nicht angeschlagen haben. Aber wer hat ihm verrathen, daß ich in die reizende Louise verliebt bin, und daß sie meine zärtlichen Aufmerksamkeiten gern annimmt? Er sprach von Reue – Louise war schwer krank – sie selbst! Die alte Meta kann nicht geplaudert haben, da bei der Zerstörung unsers geheimen Verhältnisses ihr eine ergiebige Erwerbsquelle versiegen würde. Ich täusche mich nicht, wenn ich annehme, daß Louise Gewissensbisse fühlt! Diese Krankheit kam mir sehr ungelegen. O, über diese thörichte, schwache Frau! Hat sie nicht selbst das Feuer der Leidenschaft angefacht, das mich verzehrt? Und trägt Raimund nicht selbst die Schuld, da er mir seine Frau empfahl, als er abreiste? Mein Freund ist ein guter Speculant, aber ein schlechter Ehemann. Louise, die junge reizende Frau, fordert eine glühende Liebe – und er bringt ihr eine kalte, ruhige Neigung. Dieser moralische Doctor verbannt sie schonungslos zu einem freudelosen Leben, und weil sie als gehorsame Tochter dem Drängen des spekulativen Vaters bei der Wahl ihres Gatten gefolgt ist, soll sie nun in dem Umgange mit einem trockenen Geschäftsmanne untergehen – das muß jeder Vernünftige eine grausame Tyrannei nennen. So richtig die Herren mit Waaren speculiren, so arg haben sie sich mit dem Herzen Louisen’s verrechnet. Das sind die Folgen einer Speculationsheirath. Louise steht mir näher als Joseph – ich kann und darf sie nicht aufgeben. Doch ehe ich einen Entschluß fasse, will ich sondiren, und wehe Dir, alter Graukopf, wenn Du Dir eine ungebührliche Freiheit angemaßt, wenn Du in Deiner alten Moral zu weit gegangen bist. Dann mag der Prozeß beginnen, der Mediciner kämpfe mit einem Juristen.“
Nach einer Stunde betrat er Raimund’s Haus. Der junge Kaufmann empfing ihn mit schmerzlicher Freundlichkeit; kein Blick, kein Wort verrieth, was in der verflossenen Nacht vorgegangen.
Joseph’s ehrenhafter Charakter konnte es nicht über sich gewinnen, den Sohn seines Wohlthäters durch einen Vorwurf zu kränken, bevor er nicht vollkommen gewiß war, daß er ihn verdient hatte.
Soldaten waren in England seit der großen Ausstellung, wo ich nach London kam, immer ein sehr untergeordnetes und für mich nur komisches Element des Lebens und Treibens hier. Die unförmlichen, langen, rothen Kerle mit einem Spazierstöckchen in der Hand, einer ganz kleinen, lahtschigen Frau oder Geliebten am andern Arme und einem von Bärenfell gebauten Straßburger Münster (das dicke Ende nach Oben) auf dem Kopfe oder einer kleinen Mütze, ganz weit herunter nach dem Ohre mit dem großen Teller derselben, zuweilen auch etwas „im Schuß“ mit sammt dem unvermeidlichen Anhängsel aus den Königreichen der Küche, diese krebsrothen Kolosse ragten immer nur sehr selten aus der stets wimmelnden schwarzen, backenbärtigen, vatermörderlichen und Oben ganz hutverfilzten Civilisation des Geschäfts und der Bürgerlichkeit hervor. Freilich wenn zufällig einmal ein solcher langenglischer Rothrock mit einem blauen Policeman zusammenstand – welch ein Stolz Englands, welch eine Garantie, eine breite Grundlage der bürgerlichen Freiheit. Jeder der seltenen, einzelnen Erscheinungen von Soldat, bewaffnet mit einem niedlichen, dünnen Kunstwerk von Stock-Meyer in Hamburg und der Policeman mit einer „Flöte“, außerdem decorirt mit der unerschöpflichen Bescheidenheit und Allwissenheit in der Kenntniß von Wegen und Straßen und „wat o Clock it is.“ Fragte ein mit riesigen Zeitungen beladener Junge nach der „Glocke“ oder dem Wege, so wurde das Bild noch beneidenswerther: der waffenlose Policeman zeigt der Presse den Weg, statt sie aufzuhalten. Die Engländer lachten, wenn ich sie auf solche kostbare Lebensbilder aufmerksam machte und meinten, das wäre bei ihnen ’ne alte Geschichte und das verstände sich doch ganz von selbst. Die Glücklichen, sie haben’s ganz vergessen, daß die englische Militär- und Polizeigewalt einst den Schriftstellern mehr Ohren abschnitt, als sie entbehren konnten. Ja, die Barbarei der englischen Geschichte ist stark mit Gras überwachsen. Gewehre und Säbel kommen entweder gar nicht oder nur als Hirschfänger und Jagdflinten freier Jäger vor. Kanonen waren seit undenklichen Zeiten blos vor Freude zu Geburtstagen oder Geburten am civilen Hofe losgegangen. Ich sah und merkte keine Spur von Militär- und Polizeigewalt. Erst als nach dem Staatsstreiche in Paris die Presse von „Invasion“ sprach und daß Napoleon eines schönen Morgens bei Hastings landen könne, schneller als Wilhelm der Eroberer vor 786 Jahren, entdeckte ich den ganz verborgenen militärischen Schatz Englands, der sich überall regte und zeigte und in Chobham ein Lager aufschlug, dergleichen die ganze Generation nicht gesehen. Es wurde wieder still und die kolossalen Rothröcke gingen wieder sehr einzeln mit Spazierstock-Meyer und je einer schönen Hälfte als Raritäten der geldmachenden Welthandelsstadt umher.
Da „Nachts um die zwölfte Stunde verläßt der Tambour sein Grab“ und trommelt die ganze Christenheit und Türkenheit aus dem Friedensschlafe. John Bull, der während der vierzig Friedensjahre fabelhaft viel Geld zusammengeschachert hat, fängt an ernstlich zu untersuchen, ob seine feuerfesten Geldspinden und Handels-Comptoire in aller Welt umher mit Schlüsseln versehen sind, die Sicherheit gewähren gegen den zur „Kirche von Bethlehem“, welcher als erster Aufwiegler zum allgemeinen Kriege emporgehalten ward und als ein Allerwelts-Dieterich alles Privateigenthum von Europa und Asien, so sehr es auch gegen Feuer-, Hagel- und Mottenschaden versichert sein mochte, unsicher machte. John Bull, sagt ein jovialer, friedlicher Kerl, versteht in dieser Beziehung nicht den geringsten Spaß und glaubte es dem friedlichen, greisen, weisen Aberdeen nicht, wenn er sagte, daß Alles nur Spaß sei. Und als gar der Weiseste der Weisen, Palmerston, das Parlament im vorigen Herbste mit der Versicherung entließ, daß Rußland, welches über den Pruth gegangen, seiner Ehre wegen jedenfalls von selbst wieder zurückgehen werde, sagte er Etwas, das kein Tertianer in seiner Ferienarbeit hätte wagen können, ohne daß ihm der Rektor gesagt haben würde, er möge abgehen und Gänsejunge werden, da er zum Studiren keinen Kopf habe. John Bull, obgleich kein Genie, glaubte nicht an den diplomatischen Schäker und wühlte in allen Kriegshäfen herum, untersuchte alle Schiffe und Casernen und schmolz und goß Eisen und baute Schiffe und machte Flinten und Säbel und rüstete und rüstete, wie er es noch nie gethan, und stellte ein Paar Flotten hin, wie sie die Welt noch nie gesehen und rüstete eine Flotte „nach“, als wollt’ er nicht blos die Erde, sondern auch den Mond erobern. Hat 5000 Kanonen auf dem baltischen und schwarzen Meere schwimmen mit manchen eine deutsche Meile weit tragenden Sechsundachtzigpfündern. Ohne die Enten des Charles Napier und von Dundas und die in allen Häfen der Welt zerstreut liegenden Kriegsschiffe sind unterdessen in den vier englischen Häfen von Portsmouth[WS 1], Devonport, Chatam und Sheerneß nicht weniger als 161 Kriegsfahrzeuge mit 6807 Kanonen, theils ganz fertig geworden, theils auf dem Wege naher Vollendung. Außer diesen 161 werden noch fünf in Portsmouth, sieben in Devonport, eins in Sheerneß, sechs in Chatam, eilf in Pembroke, vier in Deptfort, vier in Woolwich und eins in Millwall – zusammen 39, gebaut, so daß, wenn die baltische und schwarze Meer-Flotte bis auf Mann und Maus zerstört würden,
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Portsmuth
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_312.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)