verschiedene: Die Gartenlaube (1854) | |
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im Sessionszimmer des Rathhauses versammelt, nach deren Schluß der Scharfrichter zum zweiten und letzten Male den zum Leben zurückgekehrten Gehenkten dem Galgen zuführte und dort wieder neben dessen Mitschuldigen aufknüpfte, und obwohl auch in der Rathsversammlung sich so manche Stimme des Mitleids für den Unglücklichen erhoben hatte, so glaubte man dennoch der Milde hier keinen Einfluß gestatten zu dürfen, und auf die Erfüllung des Urthelspruchs streng bestehen zu müssen, welcher den Buchhalter verurtheilt, durch den Strang vom Leben zum Tode gebracht zu werden und man durch einen Act der Gnade die in damaliger Zeit gefürchtetn Macht des städtischen Blutgerichts in den Augen des Volkes zu gefährden glaubte.
Als aber diese Execution, welche schnell und geräuschlos erfolgte vorüber war, und man den Scharfrichter zum zweiten Male für die Ausführung derselben bezahlt hatte, wurde der Pole vorgeführt und von diesem unter Androhung der Folter das Geständniß erpreßt, daß er geschworen habe, den Rathsherrn einen Bürgen für seine Schuld zu bringen Und solle er denselben vom Galgen holen. Dies Versprechen habe er erfüllt, denn ein anderer Bürge hätte sich für ihn nicht gefunden, nun aber verlange er Befreiung aus seiner Haft, da er seit gestern im Dienste des Herzogs von Braunschweig stehe und für immer die undankbare Stadt verlassen wollte.
Nach dieser Erklärung wurde Wranitzky wieder abgeführt, der Magistrat aber faßte nach kurzer Berathung den einstimmigen Beschluß:
„Den Polen Bartholomäus Wranitzky, zur Strafe wegen des von demselben verübten Frevels gegen die der Stadt zustehende richterliche Gewalt, in ein Faß zu spunden, durch einen Fuhrmann in die ödeste Gegend der Niederlausitzer Haide zu schaffen und dort laufen zu lasen, wohin es ihm beliebe, und jedoch ihn zu verwarnen, bei Todesstrafe Bautzen und dessen Weichbild je wieder zu betreten“.[1]
Als dem braunschweigischen Werbeoffizier so wie dem Stallmeister Kenntniß wurde von diesem Strafurtheil, durch welches der Pole nach einer dem Marsche der angeworbenen Truppen entgegengesetzten Richtung transportirt werden sollte, versuchten Beide, da sie mit der wenigen zu ihrem Gebote stehenden Streitkraft gegen die mächtige Stadt durch Gewalt nichts auszurichten vermochten, den Magistrat durch gütliche Vorstellungen zu bewegen, das Urthel dahin abzuändern, daß der neu angeworbene Reitersmann statt in die Gegend der Niederlausitz, nach der Dresdner Haide geschafft werden möchte, wozu man auch, im Stillen froh, den tollen Polen los zu werden, endlich seine Einwilligung gab.
Unter dem weit hin schallenden Gelächter des Volkes wurde auf offnem Markte Wranitzky in ein großes leeres Weinfaß gesteckt, der Deckel über ihm zugeschlagen und nur durch ein kleines Spundloch ihm die frische Luft zu schöpfen verstattet, und als der Fuhrmann unter lautem Peitschenschall mit seiner seltsamen Ladung in die Straße nach Dresden einlenkte, da schmetterten von der Herberge zum goldenen Lamme lustig die Trompeten zum Aufbruch und dem Fuhrwerke nach sprengte die letzte Abtheilung der braunschweigischen Hülfstruppen, denen der Stallmeister mit seinen Knechten und der Remonte folgte.
Ob der Pole sich nach Befreiung aus dem Fasse zu dem Stallmeister gefunden, und als braunschweigischer Reitersmann dem Krieg gegen die Türken beigewohnt hat, darüber ist in der Chronik nichts zu finden. Wohl aber hat sich durch diesen letzten tollen Streich des Bartholomäus Wranitzky in der Lausitz Jahrhunderte hindurch das Sprüchwort erhalten: „In Bautzen hängt man die Diebe zweimal.“
„Liebt mich“ – „Liebt mich nicht“ – „Liebt mich“ – „Liebt m–“
So weit war ich an meinen Rockknöpfen, in Ermangelung einer Gänseblume, gekommen, als ich erschreckt auf meinem Sitze zusammenfuhr und meine schöne Wittwe und mich selbst vergaß. Ich saß nämlich auf einer Bank unter den Ulmen des luftigen Platzes, welcher die Hochstadt von Boulogne und ihre alten Wälle umgiebt, um über mein Schicksal nachzudenken und ob „sie“ wohl endlich Ja sagen würde, eine melancholische, aber eine der schönsten Situationen, in der hoffentlich sich jeder halbweg erwachsene Mann einmal befunden haben wird. Die Bank unter mir, die Wälle, die Bäume, die Luft, ich – Alles zitterte und dröhnte. Es war ein dumpfes, fernes Beben und Brummen, das kaum in fernen Echo’s erstorben war, als es sich von Neuem erhob. Die alten, verwitterten Thürme über mir zitterten auch, und ich sprang mit neuem Schreck auf, um aus dem Bereiche ihrer Sturzweite zu kommen. War es ein. Erdbeben? Nein. Die Schildwache schritt methodisch und ernst am Schlosse auf und ab, als wenn gar Nichts zu zittern wäre, und so fass’ auch ich wieder Muth. Horch! Dasselbe dumpfe Brüllen und Dröhnen unter mir, in mir, über mir und diesmal deutlicher und gewaltiger. Es kam vom Meere her. Da sah ich’s. Mein Herz pochte laut. Mein friedliches, englisches Herz erbebte von Stolz, Trauer, Reue, Demuth, Groll – ich weiß nicht von was. Ich sehe die Blitze herausfahren, ich höre den Donner nun deutlicher, die Donnerstimme, die beinahe ein halbes Jahrhundert über Europa geschwiegen und nun plötzlich unabweisbar aufgefordert war, aus ihren tiefsten, verderblichen Schlünden sich desto furchtbarer vernehmen zu lassen.
Der Donner englischer Flottenkanonen, der erste Ton der europäischen Kriegsarie!
Seit Wochen hatten wir fast tagtäglich gehört und gelesen von kriegerischen Vorbereitungen, Märschen, Bemannungen von Schiffen, von Männer-Enthusiasmus und Frauenthränen; wir wußten, daß unsere Flotte die französische hier vor Boulogne begrüßen würde, um zusammenzugehen; aber wie gewaltig anders stellte sich jetzt die Wirklichkeit dieses Lesens und Hörens und Wissens dar. Mein Auge wanderte an den grimmen Bogen der Wälle hin, die zum „Kaiserpalast“ Napoleon’s I. führen. Er sieht noch ganz so aus, wie damals, als er sich zur „Invasion Englands“ rüstete. Jahrhunderte lang hatten sich England und Frankreich als Feinde betrachtet und behandelt. Und jetzt, welch ein brüderliches Jubeln zwischen dem Kanonendonner hindurch – der beiden Feinde!
Ich blickte scharf durch die noch blätterlosen Bäume in’s blaue Meer hinaus, um die weißen Segel schimmern zu sehen und ihnen meinen Gruß zuzuwinken. Die wiederholten Donnersalven hatten mich zu einer Begeisterung, einer Trauer aufgerüttelt, daß ich hätte weinen mögen. Ich sah mich um nach mitfühlenden Seelen; aber der Bäcker mit seinem Korbe, die Bonne mit ihrer schreienden Last, die Kinder mit ihren Federbällen, Mädchen mit ihren Springriemen, Arbeiter mit Instrumenten – Alles ging an mir vorbei, ohne Lust zu zeigen, meine patriotische Aufregung zu theilen. Auch die Engländer, die sich hier und da zeigten (denn Boulogne ist beinahe halb englisch) sahen stumm und kalt aus. Sie ließen sich wohl nicht einmal gern an die Heimath erinnern.
Das bedarf einer Erklärung. Boulogne ist der Gegenpol zu der „Königin-Book“ [2] in London. Wer sich vor dem Zudrange von Gläubigern, die den Glauben an uns verloren haben, retten und das Seinige in Ruhe verzehren will, geht „hinüber“, am Liebsten nach Boulogne. Ich gestehe offen, daß ich auch ein solcher Flüchtling war. Ich war mit neunzehn Jahren ein freier Mann, Baronet und einziger Erbe eines unmenschlich reichen Onkels. Die Gauner und Schacherer und Jobberer wußten das und hatten durch meine Unerfahrenheit, meinen Leichtsinn, meine Lebenslust mich bis über die Ohren in Schulden gestürzt. Ich weiß, daß ich förmlich meuchlings mit Geld angefallen wurde, um es durchzubringen.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_229.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)