verschiedene: Die Gartenlaube (1854) | |
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Die Newa. Der harte nordische Winter schlägt leider fast die Hälfte des Jahres die Newanymphe in eiserne Banden. Erst im Anfange des April, selten am Ende des März, sind die Gewässer warm und kräftig genug, um den sie drückenden Eismantel zu sprengen. Dieser Augenblick wird mit Sehnsucht erwartet und kaum schieben sich die schmutzigen Eisschollen vor, den glatten Spiegel des Flusses so weit enthüllend, daß einem überfahrenden Boote freie Bahn vergönnt ist, so erdonnern die Kanonen von der Festung, diesen ersehnten Moment den Bewohnern verkündend. Zur selben Zeit, sei es Tag oder Nacht, steigt der Commandant der Festung, mit allen Insignien seines Ranges angethan und von seinen Offizieren begleitet, in eine prächtig geschmückte Gondel, um zum gegenüberliegenden Palaste des Kaisers zu fahren. In einen schönen, großen Krystallbecher schöpft er das klare Newawasser, um es als die erste und schönste Gabe den Flusses dem Kaiser im Namen des Frühlings darzubringen. Er meldet seinem Herrn, daß die Gewalt des Winters gebrochen sei, daß die Gewässer wieder frei seien und überreicht ihm den Newabecher, den der Monarch auf die Gesundheit seiner Residenz leert. Der Zeitpunkt der alljährigen Feier naht heran, und die Gondel des Commandanten harrt bereits in frischgetünchter Pracht ob des baldigen Ereignisses. Werden die Kanonen der Festung jedoch auch heuer so freudebringend ertönen, wird der Commandant auch heuer nach gewohnter Sitte seinem Herrn die Meldung bringen, daß die Gewässer wieder frei seien? Die „Petersburgerinsel,“ von der wieder durch kleine Flußarme die Apothekerinsel, die Insel Petrowskoi und eine Menge kleinerer abgetheilt sind, gewährt das meiste Interesse durch die auf einer besondern kleinen Insel vor ihr liegende Festung, die man vom Admiralitätsthurme aus in allen ihren Theilen übersieht. Sie bildet ein längliches Viereck, das große Vorwerke auf der Petersinsel und zwei andere kleine Inseln vorgeschoben hat, so daß sich auf den Kanälen, welche die Inseln von einander trennen, auch Schiffe unter die Kanonen der Festung sicher zurückziehen könnten. Es ist gut, daß die Petersburger gewöhnlich andere Dinge zu besorgen haben, sonst möchten sie wohl nicht ohne Schaudern an die Bestimmung dieser mitten in ihrer schönen Residenz liegenden Festung denken. Da sie rund herum von der Elite der Petersburger Häuser umgeben ist, so würden, wenn die Thätigkeit ihrer Kanonen einmal in Anspruch genommen werden sollte, ihre Kugeln furchtbar in den Eingeweiden des eigenen Fleisches wüthen. Da sie mitten in der Stadt auf niedriger Insel liegt, von wo aus sie nichts außer der Stadt dominiren und diese also durchaus nicht vertheidigen könnte, so kann der einzige Zweck ihrer Unterhaltung nur ein feindlicher gegen die Stadt selber sein, dem Kaiser und den ersten Häuptern und Kostbarkeiten als letzter Zufluchtsort zu dienen, sei es, daß die Stadt in Feindeshand geräth, sei es, daß sie aufrührerisch sich selbst gegen ihren Beherrscher erhöbe. Die Festung liegt dem Winterpalast gerade gegenüber, mit dem sie in beständigem Verkehre steht, und zeigt so deutlich Ihren Zweck. Im Kriege wohnt man drüben, im Frieden hüben. Die Newaarme unmittelbar an ihrer Mündung in’s Meer sind durch nichts befestigt, und wenn Kronstadt, das ihnen als Schloß und Riegel dient, seinen Dienst versagt, so mag dann die wehrlose Hauptstadt vor der Spitze des Dolches zittern, den sie im Busen trägt und den sie nicht zur Vertheidigung brauchen kann, ohne sich selbst zu zerfleischen.
Geistesgegenwart. Zwischen dem Grafen Flemming (✝ 1740), Gouverneur der Stadt Leipzig und dem damaligen Magistrate fielen verschiedene Zwistigkeiten vor. – Bei einem Gastmahle, bei dem der Graf zugegen war und auch der regierende Bürgermeister, der um Leipzig hochverdiente Hofrath Dr. Adrian Steger, kam die Rede auf den Zapfenstreich, den der Gouverneur Abends zuvor hatte schlagen lassen. – „Wissen Sie,“ fragte er den Bürgermeister, „auch den Text dazu?“ – „Nein,“ erwiederte dieser. – „Nun, er lautet:
Und wenn der Rath des Teufeln wär’,
So bin ich doch der Gouverneur.“
„Excellenz,“ versetzte Steger sogleich, „wir haben eine andere Lesart. Nach der heißt es:
Der König nur ist unser Herr;
Der Teufel hol’ den Gouverneur.
Naturarithmetik. Zum Beweise, wie nothwendig es ist, daß den erzeugenden Naturkräften andere zerstörende entgegenwirken, mag Folgendes dienen. – Das Bilsenkraut, vielleicht die saamenreichste Pflanze, würde nur eine Zeit von vier Jahren brauchen, um die ganze Oberfläche der Erde zu bedecken, wenn all’ ihr Saame Wurzel triebe. Ein Stengel dieses Krautes enthält zuweilen 5000 Saamenkörner; diese Zahl auf 1000 herabgesetzt, so würde sich die vierte Zeugung bereits auf 10,000,000,000,000,000 belaufen. Man berechnet aber die Erdfläche auf 5,359,758,336,000,000 Quadratfuß. Folglich würde, wenn man einem Stengel auch nur einen Quadratfuß einräumte, die ganze Erdfläche nicht für alle die Pflanzen hinreichen, die aus einer einzigen Bilse am Ende der vierten Zeugung, oder des vierten Jahres entsprössen. – Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Thierreiche. So würde z. B. die Nachkommenschaft einer einzigen Sau, die sechs Junge wirft, worunter zwei männliche und vier weibliche, wenn von diesen weiblichen ein jedes wieder sechs Junge, in gleichem Verhältniß der männlichen und weiblichen, in jedem Jahre zur Welt brächte und keines zerstört würde, sich in zwölf Jahren auf 33 Millionen, 554,430 belaufen. – Ungeheuer würde vollends die Vermehrung solcher Thiere sein, die nur wenige Wochen tragen, wie z. B. die Kaninchen, die Katzen u. s. w. Schon nach einem halben Jahrhundert würde die Erde nicht mehr im Stande sein, sie zu bergen und zu ernähren. – Nur wenige Jahre bedürfte es, und ein einziger Hering könnte den ganzen Ozean mit seiner Nachkommenschaft bevölkern. Wir wollen nur bei einem eitragenden Fisch 2000 annehmen, aus welchen tausend Männchen und tausend Weibchen ihr Dasein empfingen, so würden es im zweiten Jahre schon mehr als 2,000,000 im dritten 200,000,000, und im achten Jahre mehr sein als 2,000,000,000,000,000,000,000,000 Heringe. Nun enthält aber der ganze Erdkörper kaum so viel Cubikzoll, der Ozean würde also diese Fische nicht fassen können, selbst wenn er die ganze Oberfläche der Erde mit ihrer ganzen Tiefe einnähme.
Der Revalenta arabica-Schwindel. Die Berliner Feuerspritze bringt einen sehr derben Artikel gegen dieses sogenannte Heilmittel, dessen Ankündigung man jetzt in allen Zeitungen liest. Es wird immer eine Herkulesarbeit bleiben, den Augiasstall medicinischer Charlatanerie reinigen zu wollen und man kann es den wenigen Organen der Oeffentlichkeit nur Dank wissen, wenn sie bei den vielen schlechten Resultaten, die sie trotz aller Mühe erzielen, nicht erlahmen. Daß sich aber sogar Aerzte und Zeitungen finden, die dergleichen Schwindeleien unterstützen, wird mit Recht von der Feuerspritze an den Pranger gestellt.
„Eine treffliche Bundesgenossenschaft“ sagt sie „in dieser Razzia gegen das deutsche Publikum hat das englische Haus in unserer periodischen Presse gefunden, die mit unglaublicher Naivität sich zur Fanfare dieser Spekulation machte oder, was noch viel schlimmer ist, sich dazu erkaufen ließ. Wir haben ein Schreiben in Händen, in welchem die Herren Du Barry von der Redaktion einer wissenschaftlichen Zeitschrift gegen das Erbieten eines ziemlich ansehnlichen Insertions-Betrages die Aufnahme einer Reihenfolge lobender Artikel beanspruchen, mit der ausdrücklichsten Bedingung, daß nichts gegen die Revalenta arabica in die quästionirte Zeitschrift aufgenommen werden dürfe. Die wenigsten deutschen Zeitungen vermochten diesem Lockvogel zu widerstehen, und so ist es erklärlich, wenn wir in dem für literarische, wissenschaftliche etc. Notizen bestimmten Theile unserer Zeitungen jene aus der Du Barry’schen Fabrik hervorgegangenen Lobpreisungen mit Hinweis auf die in den Beilagen enthaltene merkantilische Annonce der Revalenta finden.
„Das Publikum, gewohnt, seinen täglichen Bedarf an Intelligenz aus dem Reservoir der Spener’schen und Vossischen zu schöpfen, nimmt bona fide jene Anpreisungen für Redactions-Artikel und hegt nicht den leisesten Zweifel an der ausgezeichneten Wirkung der Revalenta, denn sie hat „in der Zeitung gestanden“. – So machen sich unsere Redactionen, indem sie sich leichtsinnig zu jenen Manipulationen hergeben, zu Mitschuldigen einer absichtlichen Täuschung, welche die Herren Du Barry weiter auszubreiten verstehen, indem sie den Artikel, etwa einer süddeutschen Zeitung, mit den Worten beginnen lassen: „Die Berliner Spener’sche Zeitung sagt Folgendes etc.“ – Hätten unsere Zeitungen ihre Aufgabe richtig begriffen, spürten sie etwas von der moralischen Verantwortlichkeit, die auf ihnen lastet, sie würden sich nimmer, um eines pecuniären Vortheils willen, zu Werkzeugen eines solchen Verfahrens machen. – Von den deutschen Aerzten haben die Herren Du Barry nur drei zu ihren Annoncen-Dienern zu werben vermocht; Schreiber dieses hatte vor Kurzem Gelegenheit, einen derselben kennen zu lernen, und fand in dieser persönlichen Bekanntschaft bald den Schlüssel zu dem Räthsel, wie ein Arzt die Heilkraft der Revalenta gegen Lungenschwindsucht mit seiner Namensunterschrift zu attestiren vermöge. Originell ist das Zeugniß eines englischen Arztes und Chemikers, des Doctor Ure, welches die Herren Du Barry mit großer Emphase produciren; dieser Herr Ure ist der unparteiischste Mensch auf Gottes Erdboden und bezeugt nicht blos der Revalenta, sondern auch der Ervalenta und jedem andern aus der Linse, Wicke, Saubohne oder andern Ingredienzien hervorgegangenen Concurrenz-Produkte, daß es das beste und heilkräftigste ist.
„Mit solchen Mitteln haben nun die Herren Du Barry es vermocht, das deutsche Publikum zu verführen, ja sogar unter den sogenannten gebildeten Ständen enthusiastische Anhänger gemacht, deren einer, zum Hauptmann gesetzt über eine preußische Compagnie, jedem Gegner der Revalenta öffentlich einen „albernen Esel“ aufbrummt und dadurch der logischen Beweisführung einen durchaus neuen Weg eröffnet.“
Literatur. Während an der Donau, in Asien und wahrscheinlich auch bald in der Ostsee die Kanonen donnern und das Interesse des Publikums fast nur an die Zeitungspresse gefesselt ist, wagen sich doch noch einige schönwissenschaftliche Produkte auf den literarischen Markt, der durch die kriegerischen Ereignisse fast ganz verödet ist. Von Rellstab erscheint eine billige Ausgabe seines bekannten Romans „1812“, von H. König eine 2. Ausgabe seiner Werke, von Gutzkow bekanntlich ebenfalls eine billige dritte Ausgabe seiner „Ritter vom Geiste“. Als ganz neu sind neuerdings noch angekommen: L. Schüking, ein Staatsgeheimniß, 3 Bände. – Chop, Poesie und Verbrechen, Novelle. – Schröder, Iphipania In Delphi. – Natalie von Barfuß, Ida und Clara. 3 Bände, der Königin von Preußen gewidmet. – Hermann Grimm, Traum und Wachen, ein Gedicht.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_202.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)