verschiedene: Die Gartenlaube (1854) | |
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Indessen rückte der Tag immer näher, an welchem der Knabe von dem älterlichen Hause scheiden sollte. Seine kleine Ausstattung war besorgt. Wäsche und Bücher hatte sein eigener, neuer Koffer aufgenommen, auf dem eine Messingplatte mit den Buchstaben A. L. prangte, und der Knabe saß ernst daneben, und betrachtete mit dem Gefühle des Eigenthumsrechts, was er sein nannte, und jetzt als Besitzer gegen jeden Begehrenden vertheidigen sollte. – Leise öffnete sich die Thüre und Leonie trat ein. – Sie hatte geweint und die Spuren kaum verwischter Thränen waren noch sichtbar auf den rosigen Wangen.
„Da, August!“ sagte sie, und hielt ihm mit abgewandtem Gesichte ein Päckchen hin. Er nahm es, ohne sie dabei anzusehen.
„Was ist das?“ fragte er, nur um etwas zu sagen.
„So öffne es doch nur und sieh selbst!“ begehrte sie, und setzte sich auf den Stuhl am Fenster, scheinbar, um auf die Straße hinab zu sehen.
Langsam löste er das Papier ab. Da fielen ihm entgegen Bücher und daneben ein Schreibkasten, in welchem er ein Petschaft mit seinem Namen fand, und unter dem bunten Briefpapier entdeckte er endlich wieder ein kleines zusammengerolltes Päckchen. – Er entrollte auch das langsam, wie das Uebrige, und fragte dabei mit möglichst passivem Tone: „Von wem kommt denn dies Alles?“
„Von meinem Vater, meiner Mutter und – von mir!“ sagte Leonie mit immer leiser werdendem Tone.
„Von Dir?“ fragte der Knabe wie befremdet. „Was ist denn von Dir dabei?“
„Das!“ sagte sie nur und deutete auf das Päckchen in seiner Hand, das er eben enthüllte. Eine Geldbörse kam zum Vorscheine und in dieser waren mehrere Goldstücke, die August, als er sie öffnete, entgegenfielen.
„Was soll das!“ rief er aus. „Woher hast Du das?“
„Aus meiner Sparbüchse hab’ ich es genommen.“ sagte das Mädchen schüchtern. „Du wirst es in der großen, fremden Stadt brauchen.“ Sie schwieg und blickte wieder durch das Fenster.
Der Knabe hielt die Börse in seiner Hand und ließ die Stücke langsam durch seine Finger gleiten. Sein Mund verzog sich dabei seltsam; nach und nach perlten große Thränen über seine Wangen, bis er endlich Alles von sich warf und in ein lautes Schluchzen ausbrach. Leonie störte ihn darin durch kein Wort; sie weinte nur still mit.
So fand die Mutter Beide, als sie endlich dazu kam, um nachzusehen, ob Alles fertig sei, und den Koffer dann mit eigener Hand zu verschließen. Sie führte sie mit sich hinab in das Wohnzimmer und suchte sie sanft zu zerstreuen. Leonie blieb den Abend da, und wurde nach Kinder Art wieder heiter, und unter mancherlei Gesprächen verging die Zeit. Endlich schlug es zehn und sie mußte nach Hause. August begleitete sie bis an die Thüre. Er gab ihr die Hand und drückte die ihrige kräftig.
„Ich werde Dir das nicht vergessen, Leonie!“ flüsterte er, während seine Mutter sich umwandte. „Mein ganzes Leben lang nicht. Du sollst schon sehen.“ –
Das Mädchen wandte den Kopf ab, aber ihr Gesicht strahlte.
Sie wußte nun, daß es ihn gefreut hatte. Mehr wollte sie ja nicht, und sie dachte schnell an die nächste Weihnacht und an das, was sie ihr bringe auch ihrem Spielgefährten gewidmet sein sollte.
Früh bei Tagesanbruch rollte August im Postwagen seinem neuen Wohnorte zu. – Er mußte die Reise allein machen, denn die beschränkten Geldverhältnisse der Aeltern erlaubten es nicht, daß Jemand von ihnen mitging. Man scheuete ohnehin schon die Ausgabe, wie viel mehr also die doppelte. – Auguste begleitete ihn bis an den Wagen, und sah ihn mit Muttersorge ziehen.
Wie einsam war ihr nun ihr Haus, wie lang der Tag, wie leer jede Beschäftigung. Leonie kam um die gewohnte Stunde. Sie setzte sich still und stumm neben sie hin und lehnte, ohne ein Wort zu sagen, ihr Haupt an Augustens Brust.
„Sie werden mich nun nicht mehr haben wollen, seit August fort ist,“ sagte sie endlich wie resignirt.
„Doch, Kind! – Du wirst jetzt mein Trost und meine Stütze sein, denn Du allein vermißt ihn ja mit mir.“
„Und darf ich denn wirklich noch alle Tage kommen, wie sonst?“
„Ganz so. – Ich setze den Unterricht mit Dir fort. Das ist mir ja eine liebe Gewohnheit geworden. Im Wissenschaftlichen freilich kann ich den Lehrer nicht ersetzen, da müssen Deine Aeltern sorgen.“
„Wenn ich nur bei Ihnen sein kann, dann ist mir Alles recht,“ sagte Leonie, und schmiegte sich noch zärtlicher an sie. „Ich weiß nicht, wie ich jetzt noch ohne Sie leben könnte!“
„Sprich nicht so, Leonie! Du hast ja Deine guten Aeltern, und Dein Vater besonders hat Deiner Liebe so nöthig. Ich fürchte, Du wirst ihn nicht lange mehr haben.“
„Ich habe ihn sehr lieb, Tante Auguste; aber er vermißt mich nie.“
„Das scheint so, Kind! Glaube mir aber, Du dürftest seinem Leben nicht fehlen, ohne daß er sehr unglücklich wäre. Suche daher ihm noch recht viele Freude zu machen!“
„Gerne, Tante Auguste! Sagen Sie nur, was ich thun soll, und ich will es genau befolgen. Was Sie mir heißen, das ist immer gut.“
„In solchen Dingen muß Dein Herz die Lehrmeisterin sein, Kind! Und Dein Herz ist gut; darum höre nur recht genau zu, was es sagt.“
August Liebig war indessen in Rostock angelangt. Es war seine erste Fahrt über die Grenzen seiner kleinen Vaterstadt hinaus, und die Reise war für ihn daher voll neuer und überwältigender Eindrücke. In Wismar war man zu Mittag, und die Stunde Aufenthalt benutzte er schnell zu einem Spaziergang nach dem Hafen, um das Meer und ein Schiff zu sehen, ein Anblick, der ihn mit Staunen und Wunder erfüllte. Er vergaß Speise und Trank darüber, wanderte dann noch mit weit geöffneten Augen durch die Stadt, die ihm eine riesenhafte Ausdehnung zu haben schien, weilte staunend vor den spitzen Giebelhäusern der alten Hansestadt, und wurde schließlich auf dem Markte durch die Parade der Soldaten und die Militärmusik wie bezaubert festgehalten. Erst als er das Blasen des Postillons vernahm, riß er sich los und eilte dem Wagen zu, der ihn einem noch größern und weit belebteren Orte zuführen sollte. Der Präpositus hatte seinem Sohne durch einen Bekannten ein Zimmer besorgen lassen, welches von der Familie eines Gewürzkrämers um einen billigen Preis vermiethet wurde. Hier stieg August also bei seiner Ankunft ab. Butter und Brot sollte er selbst einkaufen zu Frühstück und Abend, und in einer kleinen Blechkanne auf Spiritus durfte er sich früh beim Aufstehen eine Tasse Kaffee machen. Dies war die ganze Einrichtung für seinen Haushalt. – Heute bei seiner Ankunft war er müde und suchte sein Lager, wo er nach den Strapazen dieser für ihn ungeheuren Reise den süßesten Schlummer fand. Am folgenden Morgen zog er seine Sonntagskleider an und ging zu dem Herrn Schuldirector, um sich als neuangekommener Schüler zur Prüfung zu melden. Von hier begab er sich nach einander zu den sieben Familien, die ihm Freitische zugesagt hatten, gab an jede einen Brief von seinem Vater ab, wurde im Wohnzimmer empfangen und nach ein paar artigen Worten entlassen. Damit waren seine gesellschaftlichen Pflichten abgethan und er kehrte in seine Wohnung zurück, um heute mit seinem Wirthe zu speisen, der ihn freundlich und wohlwollend gebeten hatte, am ersten Tage in seiner Familie vorlieb zu nehmen. Er fand hier auch die Ladenbursche, von denen der jüngste ihm an Alter gleich kam, und eine Tochter, ein Mädchen von achtzehn Jahren, die sich seiner sehr freundlich annahm. – Dennoch war er sehr befangen und wußte sich in dieser ihm fremden Umgebung nicht recht zu benehmen. Nach dem Essen ging er auf sein Zimmer und schrieb an seine Mutter. Dabei wurde ihm recht wehmüthig zu Sinn, und er wischte manche verstohlene Thräne aus dem Auge. – Er kam nicht recht weiter mit seinem Briefe; schon dämmerte es und immer noch saß er da mit der Feder in der Hand und dem Bewußtsein, daß er noch so vieles sagen möchte, und doch eigentlich nicht finden konnte, worin es bestehen sollte. Da klopfte es und Riekchen, die Tochter, trat ein.
„Ich komme Sie zu holen, lieber August!“ sagte sie freundlich. „Wir gehen gleich zu Tische und Sie können den ersten Abend nicht so einsam hier auf Ihrem Zimmer sitzen.“
„Ich bin noch nicht fertig mit meinem Briefe,“ sagte er kleinlaut.
„So beendigen Sie ihn nachher, dann können Sie gleich hinzusetzen, wie Ihnen unsere Biersuppe geschmeckt hat,“ sagte sie und nahm seine Hand, um ihn mit fortzuziehen. Er folgte gerne. Es war ihm gar einsam und unheimlich zu Muthe, und die Beschreibungen
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_169.jpg&oldid=- (Version vom 29.11.2016)