verschiedene: Die Gartenlaube (1854) | |
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Heiligkeit. – Still, laß mich ausreden – Heiligkeit in Gesellschaft ehrwürdiger Matronen und Candidatinnen Hymens zwischen 40 und 60, jede mit 4 bis 5 Hunden und 6 bis 10 Katzen – jede mit einer besondern Biographie und Krankengeschichte – reizende Reunions, frühes Nachhausegehen, nützliche Unterhaltung, schwacher Thee. Berliner Stickmuster, gebutterte Toaste und allgemeines Wohlwollen zweimal die Woche. Ja, ja, Frank, ich wollte, Du hättest aus mir gottlosen Dragoner einen frommen Küster gemacht, wenn ich Dir gefolgt wäre.“
„Mit solchen Gesinnungen darfst Du Miß Sandford nicht heirathen. oder Du bist ein –“
„Bewohner von Queensbeech.“
„Nein, ein – Schuft.“
Frank war roth vor Zorn aufgesprungen und ging. Cranston folgte ihm mit geballter Faust. Frank wendete sich um, sah ihn fest an und schien auf das Aergste gefaßt zu sein. Cranston konnte den Blick nicht aushalten, kehrte um und warf sich verächtlich in einen großen Federstuhl. Mit den Worten: „ein Schuft“, noch einmal in zischender Wuth durch die Zähne gepreßt, schloß Frank die Thür, durch welche er gegangen war.
Cranston blieb eine Weile blaß und zitternd in seinem prächtigen Sammetstuhle halb liegend sitzen und drehte eifrig den Schnurrbart. Endlich sprang er auf. zündete sich eine andere Cigarre an, besah sich im Spiegel und verglich sich dann mit seinem Portrait, das in lebensgroßer, männlicher, blühender Schönheit auf ihn herabsah. Dann fing er an zu lesen, warf aber das Buch bald wieder auf den Tisch, pfiff Reminiscenzen einer neuen Polka and zog dabei ein zierliches Briefchen aus dem Taschenbuche, um es pfeifend noch einmal zu überlesen. Dies veranlaßte ihn, plötzlich zu klingeln und dem Diener zu befehlen, daß man seine „Fliege“[1] vorfahre.
Die Offiziere der Pferde-Garde[2] gaben ja heute Abend den ersten Künstlern und Künstlerinnen des kleinen St. James-Theaters ein Soupé, ein splendides Nachtmahl, und er war eingeladen, und die schönste Prinzessin der Idealwelt von St. James hatte ihn in dem erwähnten Billetchen inständigst gebeten, doch ja zu kommen, damit sie sehe, ob er aus seiner neuen Bräutigamsrolle nicht durchfallen werde.
Und täuschte sich Miß Sandford denn wirklich so sehr in den wahren Gesinnungen und Sitten ihres Verlobten? Sie gehörte der strengsten, guten Gesellschaft Englands an, wo der kleinste sittliche Makel, sobald er bekannt geworden, die Thüren verschließt. Und Cranston’s Ruf war in ihren Kreisen kein Geheimniß mehr. Auch hatten es Tanten und namentlich jungfräuliche Blaustrümpfe in der ersten Blüthe ihrer Vierziger durchaus nicht an herzergreifenden tugendhaften Warnungen und Hinweisen auf schmachtend lauernde bessere Partieen fehlen lassen. Man könnte sagen: sie liebte ihn einmal und er trug eine Offiziersuniform; aber erstens stehen die Uniformen in England grade in dem Rufe, daß, sobald ein Mädchen aus der höhern Gesellschaft sich mit einem Offizier gefunden hat, letzterer vor allen Dingen seine Uniform auszieht und seinen Abschied nimmt, zweitens liebte sie wirklich und zwar mit der reinsten Flamme, die nichts auslöschen kann, als die Entweihung des Mannes, die Entweihung seiner Liebe und Ehre. Sie liebte ihn um so inniger, weil sie in ihrer Liebe die Verpflichtung und Macht erkannte, ihn, den schönen, ursprünglich edeln Mann von dem Abgrunde zurückzuziehen, in den er ohne sie stürzen würde. Seine Liebe zu ihr, an die sie fest glaubte, war gerade das einzige Band, mit dem er mit seinem frühern bessern Selbst (und sie hatten sich von Kindheit an gekannt) wieder in Verbindung trat. So wies sie alle Warnungen und Verläumdungen ab und hatte nach Veröffentlichung ihrer Verlobung sich alle dergleichen Zuträgereien so ernst verbeten, daß sie jedesmal das Zimmer verließ, wenn wohlmeinende Freundinnen „von reiferer Erfahrung“ sich auf diese Weise nützlich machen wollten. Cranston stellte sich alle Tage zweimal ein und scherzte in der liebenswürdigsten Weise mit ihr über seine Unwürdigkeit vor den Augen gewisser hochkirchlichen Tugend-Tanten, die Miß Sandford auch nicht liebte, da ihre Tugend und Reinheit ächt war, so daß sie in der Verachtung der kirchlichen Heuchelei, welche wie ein Gift durch die gute Gesellschaft Englands schleicht, wirklich mit ihrem Verlobten übereinstimmte. Cranston’s Besuche blieben regelmäßig, bis er eines Morgens von einem Diener abgewiesen ward: Miß Sandford sei so ernstlich erkrankt, daß sie Niemanden sehen dürfe. Sofort verdoppelte er seine doppelten Besuche jeden Tag und ließ es auch nicht an Briefen fehlen, die aber alle unbeantwortet blieben. Das war sehr beunruhigend für einen Bräutigam, der zwischen dem Himmel der Ehe und der Hölle des Schuldgefängnisses keine Wahl mehr hatte, besonders beunruhigend aber, als er bestimmt erfuhr, daß Cousin Frank, der ihr früher sehr stark aufgewartet hatte, und mehrere andere nähere Freunde bei Miß Sandford Zutritt gefunden hatten. Jetzt schrieb er mit den Qualen verschmähter Liebe, mit bengalischen Flammen, und bat bei Allem, was ihr heilig sei, um Erklärung. Auch dieser Brief blieb ohne Beachtung. Nur noch eine Woche blieb übrig bis zu dem beiderseitig verabredeten Hochzeitstage, und zugleich stellten sich Freunde und Feinde, Juden und Heiden und Christen mit Rechnungen von verschiedener Länge und lauter sehr hohen Graden von Zudringlichkeit ein mit dem Bemerken, daß sie gehört hätten, der beabsichtigte heilige Bund mit 1500 Pfund jährlicher, sicherer Rente solle nicht geschlossen werden. So ein paar Tage später beinahe zum Wahnsinn getrieben, ergriff er wieder die Feder und bat, beschwor, raste und forderte bestimmt und trotzig eine schleunige Antwort. Diese erhielt er denn auch sehr schnell und sehr kurz.
– „Square – – 1853.
Sie bewarben sich um mich und erhielten mein Wort. Das will ich getreu halten – fürchten Sie nichts. Ich will Sie an dem bestimmten Tage zur bestimmten Stunde in der Kirche sehen, aber nicht eher. Beschwichtigen Sie Ihre Ungeduld und zärtliche Bekümmerniß bis zu dieser Stunde, in welcher Sie jede Auskunft erhalten werden von Alice Sandford.“
Es wäre vergebens, das Erstaunen, die Furcht, die Zweifel, die Hoffnungen, die Legionen von versuchten Auflösungen des Räthsels, kurz den Seelenzustand Cranston’s nach dieser Epistel zu malen. Der Hochzeitstag kam und auch die Stunde und die Equipagen mit den Hochzeitsgästen und Zeugen, alle aus der hohen Gesellschaft, in doppelter und dreifacher Anzahl, abgesehen von Tausenden Neugieriger, die Zufall und Hoffnung auf effektvollen Scandal herbeigetrieben hatte.
Miß Sandford war pünktlich. Sie trug sich durchaus weiß, aber im auffallendsten Grade einfach, ohne eine Spur von Schmuck. Sie trug sich nicht wie eine Braut und sah auch nicht so aus. Außerdem begleitete sie Niemand, als ihr ehemaliger Vormund, der sie vor den Altar hinstellte wie eine Bildsäule. Cranston wollte sich ihr nähern, der Vormund winkte ihn aber zu sich, indem er zugleich dem Prediger ein Zeichen gab, vor den Altar zu treten. Sobald dieser dastand, schob er den Bräutigam vor und die Traurede begann. Die ganze Kirche voll Zuschauer und Zeugen besonders weiblichen Geschlechts schien gleichsam auf den Zehen zu stehen und athemlos zu horchen und lange Hälse über einander weg zu machen, worin besonders einige ungläubige Gläubiger ein so schreckliches Talent entwickelten, daß sie ihrer natürlichen Lunge eine volle Elle zuzusetzen schienen und die Vatermörder, im natürlichen Zustande bis an die Nase reichend, leer in die Luft starrten, da der unterste Theil des Gesichts hoch über ihren höchsten Spitzen erst allmälig anfing.
Aber die Trauungsfeierlichkeit ging ohne alle äußerliche Störung vor sich. Wenigstens bemerkten nur die Näherstehenden, daß sich die Braut zu Ende der Feierlichkeit an ihren – Mann mit vollem Gesichte umwandte, ihm ein niedliches Portefeuille einhändigte und ihm etwas in’s Ohr flüsterte.
Nachdem der Geistliche das letzte Wort gesprochen und Cranston ihr den Arm bot, wandte sie sich rasch an ihren Vormnnd, der sie so schnell zur Kirche hinausführte, als das Gedränge irgend erlauben wollte. Jetzt drängte die Menge zugleich so fanatisch hinter ihr her, daß es Cranston unmöglich war, sofort zu folgen. Als er sich endlich mit steigender Wuth und Verzweiflung durchgearbeitet hatte, konnte er sie nur eben im vollen Fluge der Pferde davoneilen sehen. Er rief ihr nach, doch natürlich vergebens. So sprang er in seinen Wagen und befahl nachzufahren. Ihre Equipage hatte einen so bedeutenden Vorsprung, daß er ihr schwerlich nachgekommen wäre, wenn nicht in einer Hauptstraße ein unendliches Gewirr von Omnibussen, Lastwagen, Droschken und hunderterlei verschiedenartiger Karren alles Räderwerk des Verkehrs gehemmt
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_036.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)