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Seite:Deutsche Sagen (Grimm) V2 005.jpg

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sieht mit andern Augen, als die Geschichte thut; es fehlt ihr ein gewisser Beischmack des Leiblichen, oder, wenn man lieber will, des Menschlichen, wodurch diese so mächtig und ergreifend auf uns wirkt[1]; vielmehr weiß sie alle Verhältnisse, zu einer epischen Lauterkeit zu sammeln und wieder zu gebähren. Es ist aber sicher jedem Volke zu gönnen, und als eine edle Eigenschaft anzurechnen, wenn der Tag seiner Geschichte eine Morgen- und Abenddämmerung der Sage hat; oder wenn die, menschlicher Augenschwäche doch nie ganz ersehbare Gewißheit der vergangenen Dinge, statt der schroffen, farblosen und sich oft verwischenden Mühe der Wissenschaft, sie zu erreichen, in den einfachen und klaren Bildern der Sage, wer sagt es aus, durch welches Wunder? gebrochen, wiederscheinen kann. Alles, was dazwischen liegt, den unschuldigen Begriff der dem Volke gemüthlichen Sage verschmäht, zu der strengen und trockenen Erforschung der Wahrheit aber doch keinen rechten Muth faßt, das ist der Welt jederzeit am unnützesten gewesen.


  1. Nur wenigen Schriftstellern des Mittelalters ist die Ausführlichkeit, wonach in der Geschichte unser Herz begehrt, eigen, wie dem Eckhart von S. Gallen, oder dem, der uns die rührende Stelle von Kaiser Otto und den Thränen seiner Mutter aufbehalten (vita Mathildis bei Leibnitz I. 205.) Dergleichen steht jede Sage nach, wie der Tugend des wirklichen Lebens jede Tugend der Poesie.
Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite V. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_005.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)