am Fletschbache fort und in Glarus hinüber. Einst
stritten die Urner mit den Glarnern bitter um ihre
Landesgrenze, beleidigten und schädigten einander täglich.
Da ward von den Biedermännern der Ausspruch
gethan: zur Tag- und Nachtgleiche solle von jedem
Theil frühmorgens, sobald der Hahn krähe, ein rüstiger,
kundiger Felsgänger ausgesandt werden, und jedweder
nach dem jenseitigen Gebiet zulaufen und da,
wo sich beide Männer begegneten, die Grenzscheide
festgesetzt bleiben, das kürzere Theil möge nun fallen
dießeits oder jenseits. Die Leute wurden gewählt und man
dachte besonders darauf, einen solchm Hahn zu
halten, der sich nicht verkrähe und die Morgenstunde
auf das allerfrühste ansagte. Und die Urner nahmen
einen Hahn, setzten ihn in einen Korb und gaben ihm
sparsam zu essen und saufen, weil sie glaubten, Hunger
und Durst werde ihn früher wecken. Dagegen die
Glarner fütterten und mästeten ihren Hahn, daß er
freudig und hoffärtig den Morgen grüßen könne, und
dachten damit am besten zu fahren. Als nun der Herbst
kam und der bestimmte Tag erschien, da geschah es,
daß zu Altdorf der schmachtende Hahn zuerst erkrähte,
kaum wie es dämmerte, und froh brach der urner
Felsenklimmer auf, der Marke zu laufend. Allein im
Linthal drüben stand schon die volle Morgenröthe am
Himmel, die Sterne waren verblichen und der fette
Hahn schlief noch in guter Ruh. Traurig umgab ihn
die ganze Gemeinde, aber es galt die Redlichkeit und
keiner wagt es, ihn aufzuwecken; endlich schwang er
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_412.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)