ihr Stillschweigen und sagte nebenbei: „wäret ihr
nicht gerade in dieser merkwürdigen Stunde gekommen,
solltet Ihr nimmer Herberge gefunden haben.“
Die furchtsame Frau kroch demüthig in einen Winkel
und schlief sanft und wie sie den Morgen mitten unter
den Felssteinen erwachte, glaubte sie geträumt zu
haben, denn nirgends war ein Gebäude da zu ersehen.
Froh und zufrieden, daß ihr in der gefährlichen Gegend
kein Leih widerfahren sey, eilte sie nach ihrem
Dorfe zurück, es war alles so verändert und seltsam.
Im Dorf waren die Häuser neu und anders aufgebaut,
die Leute, die ihr begegneten, kannte sie nicht
und wurde auch nicht von ihnen erkannt. Mit Mühe
fand sie endlich die Hütte, wo sie sonst wohnte, und
auch die war besser gebaut; nur dieselbe Eiche
beschattete sie noch, welche einst ihr Großvater dahin
gepflanzt hatte. Aber wie sie in die Stube treten wollte,
ward sie von den unbekannten Bewohnern als eine
Fremde vor die Thüre gewiesen und lief weinend
und klagend im Dorf umher. Die Leute hielten sie für
wahnwitzig und führten sie vor die Obrigkeit, wo sie
verhört und ihre Sache untersucht wurde; siehe da, es
fand sich in den Gedenk- und Kirchenbüchern, daß grad
vor hundert Jahren an eben diesem Tag eine Frau ihres
Namens, welche nach dem Forst in die Beeren
gegangen, nicht wieder heimgekehrt sey und auch nicht
mehr zu finden gewesen war. Es war also deutlich
erwiesen, daß sie volle hundert Jahr im Felsen geschlafen
hatte und die Zeit über nicht älter geworden
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_262.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)