kein Aug wieder erblickt. Die Ursache war diese: ein
Hirt hatte oben am Berg einen trefflichen Kirschbaum
stehen. Als die Früchte eines Sommers reiften, begab
sich, daß dreimal hintereinander Nachts der Baum
geleert wurde und alles Obst auf die Bänke und Hürden
getragen war, wo der Hirt sonst die Kirschen
aufzubewahren pflegte. Die Leute im Dorf sprachen:
„das thut niemand anders, als die redlichen Zwerglein,
die kommen bei Nacht in langen Mänteln mit
bedeckten Füßen daher getrippelt, leise wie Vögel und
schaffen den Menschen emsig ihr Tagwerk. Schon
vielmal hat man sie heimlich belauscht, allein man
stört sie nicht, sondern läßt sie kommen und gehen.“
Durch diese Reden wurde der Hirt neugierig und hätte
gern gewußt, warum die Zwerge so sorgfältig ihre
Füße bärgen und ob diese anders gestaltet wären, als
Menschenfüße. Da nun das nächste Jahr wieder der
Sommer und die Zeit kam, daß die Zwerge heimlich
die Kirschen abbrachen und in den Speicher trugen,
nahm der Hirt einen Sack voll Asche und streute die
rings um den Baum herum aus. Den andern Morgen
mit Tagesanbruch eilte er zur Stelle hin, der
Baum war richtig leer gepflückt, und er sah unten in
der Asche die Spuren von vielen Gänsfüßen eingedrückt.
Da lachte der Hirt und spottete, daß der
Zwerge Geheimniß verrathen war. Bald aber zerbrachen
und verwüsteten diese ihre Häuser und flohen
tiefer in den Berg hinab, grollen dem Menschengeschlecht
und versagen ihm ihre Hülfe. Jener Hirt,
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_259.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)