Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie. | |
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auch das Gewaltige wie das Schwache dahinsinkt und vergehen muß – doch der Gedanke mag ihn trösten: das Gewaltige kann sterben, aber nicht aussterben. Sei es im Strahlenpanzer Siegfried’s und Brunhild’s, oder im schlichten Bauernkittel eines Bären-Joseph und einer Geier-Wally – immer finden wir es wieder.“
So wäre denn im Ganzen und Großen das literarische Charakterbild Wilhelmine von Hillern’s fertig. Vielleicht findet Mancher, daß es mehr einer Daguerreotypie, als einer Photographie, ein Anderer, daß es mehr einer aus Aphorismen zusammengesetzten Mosaik, als einem beharrlich durchgeführten psychologischen Gemälde gleiche. Wenn es indessen nur dem Originale ähnlich geworden, so ist sein Zweck erfüllt. Allerdings aber gehört zur vollen Treue noch Eines; es handelt sich darum, die Dichterin zu postiren, das heißt ihr die Stelle in dem geistigen Leben und Schaffen der Gegenwart anzuweisen, die ihr gebührt. Denn ob man auch noch so geflissentlich aller Classification aus dem Wege gehe, gewiß ist, daß alles dichterische Schaffen mindestens ebenso viele Impulse von Zeit und Zeitgenossen empfängt, als es der Originalität einen umfassenden Spielraum läßt. Diese Impulse wollen aufgespürt und gewürdigt sein.
Unter den zeitgenössischen Schriftstellerinnen ist es zunächst die Marlitt, welcher Wilhelmine v. Hillern in manchem Stücke gleicht. Namentlich in der Art, die Probleme zu stellen. Eine siegreiche Mannesnatur überwindet ein herbes Frauengemüth. Johannes Möllner und Johannes Hellwig sind Zwillingsbrüder. Aber die sentimentale Eintönigkeit und die aufdringliche sociale Tendenz, welche der Marlitt eigenthümlich sind, fehlen bei Frau v. Hillern. Es muß nicht just ein bürgerlicher Mann sein, der die Vorurtheile einer adeligen Frau bezwingt, oder mindestens ein adeliger Mann, der seine eigenen Vorurtheile überwindet. Das ist ein sehr wesentliches Unterscheidungsmerkmal, denn wo bei der Einen die Tendenz sich breit und selbstgefällig auslegt, ist bei der Anderen für die künstlerische Entwickelung der Raum frei. Im Uebrigen ähnelt Frau v. Hillern der Marlitt auch nur in der ersten Hälfte ihres Schaffens, nämlich in den beiden Romanen „Aus eigener Kraft“ und „Ein Arzt der Seele“. Dadurch, daß sie fortschreitend Schauplatz und Zeit ihrer Erzählungen verändert, stellt sie sich eben weit über die in einen festen Kreis gebannte Rivalin, der sie in der Gunst des deutschen Lesepublicums den Rang ablief. In jener ersten Periode ihrer Production erinnert sie aber auch nicht selten an Fanny Lewald, deren Dialog ihr damals vermuthlich zum Vorbilde diente. Aber der Doctrinarismus der Ostpreußin hat sie nicht angesteckt. Fanny Lewald strebte mit den Romanen, die ihren literarischen Charakter feststellten, durchwegs praktische, sociale und politische Zwecke an und sie mußte deshalb in das Gewühl des Tages hinabsteigen, der Debatten über herrschende Themata sich bemächtigen, mit den Bedürfnissen der öffentlichen Meinung sich auseinandersetzen. Emancipation der Juden, der Frauen, der Individualitäten – es ist der Ton, den die „Jungdeutschen“ angeschlagen hatten, der in Gutzkow’s „Uriel Acosta“ zu seiner classischen Geltung gelangte, der Ton des Vormärz. Man hat, wenn man die ersten Romane der Lewald heute nachliest, bisweilen das Gefühl, als stehe man vor der parlamentarischen Tribüne späterer Tage, oder als habe man einen Leitartikel vor sich. Diese Tendenz ist, indem sie sich selbst persiflirte, durch Freytag’s
Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie.. Deutsche Rundschau. Herausgegeben von Julius Rodenberg.Gebrüder Paetell., Berlin 1880, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DeutscheRundschau_1880_23_113.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)