Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie. | |
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die von ihr geschilderten Leidenschaften der vollen Naturwahrheit sich nähern, dann muß man sagen, es gebe überhaupt keine deutsche Schriftstellerin, die auch nur in annäherndem Maße wie sie das Vermögen besäße, realistisch zu empfinden, zu schauen, zu beobachten, zu gestalten. Indessen der Realismus hat in Kunst und Dichtung seine Grenze; auch er ist ein Vasall der Schönheit. Kehrt er sich an diese Grenze nicht, so wirkt er abstoßend, grausam, unsystematisch. In der „Geier-Wally“ ist eine Stelle, welche der Naturwahrheit die Schönheit zum Opfer bringt, die Stelle nämlich, da Wally den Bären-Joseph zum erstenmal gesehen und nach dem unseligen Zweikampfe zwischen ihm und ihrem Vater dem letzteren erklärt hat, daß sie den Joseph lieb gewonnen habe, „so lieb wie keinen Menschen auf der Welt“. Da plötzlich, heißt es weiter, schrie Stromminger auf: „Jetzt Hab’ I‘s g’nug!“ Es sauste über ihr durch die Luft und ein Streich schmetterte von des Vaters Stock auf sie nieder, daß sie meinte, das Rückgrat sei ihr abgebrochen, und sie erbleichend das Haupt neigte. Es war Hagel, der auf die kaum erschlossene Blüthe der Seele fiel. Einen Augenblick war ihr so übel, daß sie sich nicht regen konnte. Schwere Tropfen quollen aus den geschwollenen Lidern hervor wie der Saft aus dem gebrochenen Zweig, sonst war Alles todt und stumm in ihr. Stromminger stand leise fluchend neben ihr und wartete, wie der Treiber bei einem Stück Vieh wartet, das unter seinen Schlägen zusammengefallen ist und nicht weiter kann.“ Wer wird leugnen, daß hier der Realismus einen wahren Triumph feiert? Aber dieser Triumph ist verletzend, ist eine Sünde vor dem Richtelstuhle der Schönheit. Und noch greller ist in der Erzählung „Und sie kommt doch“ die vielgetadelte Scene von der Selbstblendung des Mönches Donatus. So unerbittlich realistisch kann die Wissenschaft, die Kritik sein, bis zu einem gewissen Grade auch die Malerei, aber die Dichtung bedarf keines Mikroskopes, verträgt kein Mikroskop. Sainte-Beuve, der feinste französische Kritiker, hat in seiner bekannten Vorrede zu Flaubert’s Roman „Madame Bovary“, welcher unter ähnlichen Mängeln leidet, die treffende Bemerkung gemacht: „Dieses Buch liest sich am besten, wenn man eben einen scharfen Dialog aus einer Comödie des jüngeren Dumas gehört hat, zwischen zwei Artikeln von Taine. Denn unter den verschiedenen Formen glaube ich die neuen literarischen Zeichen zu erkennen: Wissen, Beobachtungskunst, Reife, Kraft, ein wenig Härte“. Ja wol, ein wenig Härte oder, wie man es bei uns nennt, Realismus. Wir sind später auf diesen „neuen“ Weg gelangt als die Franzosen; wir haben ihn aber auf unsere Weise schließlich auch betreten, nachdem wir der „Gräfin Faustine“ und ein wenig auch der Schwarzwälder Dorfgeschichte, des vielbändigen Zeitromans, des Tendenzromans und des Memoirenromans satt geworden waren, und jedes Wort Sainte-Beuve’s paßt auf Wilhelmine v. Hillern: „Wissen, Beobachtungskunst, Reife, Kraft, ein wenig Härte.“
Brauche ich mich erst gegen den Verdacht zu erwehren, als ob ich diese partielle Vergleichung mit dem jüngeren Dumas, mit Flaubert und Taine auf die gesammte literarische Thätigkeit Wilhelmine v. Hillern’s auszudehnen trachte? Hoffentlich nicht. Wilhelmine v. Hillern ist deutsch durch und durch; ja sie hat als Deutsche die Fehler ihrer Tugenden. Sie ist ehedem breit und theoretisch im Dialog gewesen wie ein Professor und wissensselig wie ein Student. Man erinnere sich jener wunderlichen Scene in „Ein Arzt der Seele“, wo die emancipationssüchtige
Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie.. Deutsche Rundschau. Herausgegeben von Julius Rodenberg. Gebrüder Paetell., Berlin 1880, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DeutscheRundschau_1880_23_108.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)