Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie. | |
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ihrer Figuren; es wurde mit Worten gestritten, bis die weibliche Ueberhebung durch die männliche Ueberlegenheit besiegt war. Aber die Dialektik, das scharfe Wenden und Einwenden logischer Argumente, die Ausdauer der Beweisführung sind nicht Frauensache und sie sind auch nicht die Sache der Frau v. Hillern. Hier unterliegt die Dichterin den Bedingungen ihres Geschlechtes, die sie vergebens zu überwinden sucht. Endlich zeigt sich noch in einem dritten Punkte bei Wilhelmine v. Hillern der Zwiespalt zwischen ihrem männlichen Können und ihrem weiblichen Sein, und zwar hier zum großen Vortheile ihres dichterischen Schaffens. Es ist eine Wahrnehmung, welche man einem Erfahrungssatze gleichachten kann, daß die Frauen in ihrem literarischen Können von einer stufenreichen Entwickelung und Vervollkommnung ausgeschlossen sind; wie Minerva aus dem Haupte des Zeus, so treten sie fertig auf den literarischen Plan; es gibt kaum ein Rückwärts, nie ein Vorwärts. Selbst George Sand blieb in alle Zukunft auf derselben Stufe, auf der sie war, als sie mit Jules Sandeau im Vereine ihre ersten Erzählungen schrieb. Wilhelmine v. Hillern aber ist gewachsen; man sah es an ihren Werken, wie sie sich reckte und dehnte und wie jeder neue Schritt sie von der dialektischen Unreife ihrer ersten zur plastischen Sicherheit ihrer letzten Erzählungen, von dem blos reflectirenden zum gestaltenden Vermögen förderte. Ihre erste Erzählung „Doppelleben“ (1865) war ein Sensationsstück, mit erklecklicher Unbeholfenheit und jener Effecthascherei aufgebaut, welche sich bei phantasievollen Pensionatsmädchen aus aufregender Lectüre zu ergeben pflegt; die zweite „Ein Arzt der Seele“ (1868) zeigte bereits ein sehr bewußtes Compositionstalent und Anläufe zu scharfer Charakterisirung, wenn auch noch allerhand überschüssige Reflexion den Eindruck trübte; in der dritten „Aus eigener Kraft“ (1870) waren die Vorzüge der zweiten potenzirt, die Schwächen gemindert; die vierte endlich, unter dem Titel „Die Geier-Wally“, zuerst in der „Deutschen Rundschau“ veröffentlicht, erwies sich als Meisterstück, dem die wunderbar erzählte Anekdote „Höher als die Kirche“ sich ebenbürtig anschloß, und wenn auch in der fünften „Und sie kommt doch“ heroische Fehler die Gesammtwirkung beeinträchtigen, so ist andererseits die gestaltende Begabung der Dichterin darin zu einer erstaunlichen Höhe entwickelt. Es gibt kaum eine schriftstellerische Erscheinung, bei welcher die ansteigende Kraft sich so deutlich wie bei Wilhelmine v. Hillern von Stufe zu Stufe beobachten und verfolgen läßt. Sie ist sich dieser Wandlung auch völlig bewußt und hat dieselbe drastisch genug gekennzeichnet, indem sie, einem späteren Freunde ihren Erstlingsroman „Doppelleben“ zusendend, ihn mit den zueignenden Worten begleitete: „Dies Erstlingswerk mit der Bitte um möglichste Discretion, da diese Jugendsünde besser verschwiegen bliebe.“
Heutzutage, da es Mode geworden, auch in der literarischen Kritik mit Schlagworten zu hantiren, drängt sich an jede literarische Leistung die Frage heran, inwieweit sie realistischer Anschauung zum Ausdruck diene. Es herrscht eine wahre Jagd nach dem Realismus und Iwan Turgènjew ist es sogar widerfahren, daß man ihn den „Romantiker des Realismus“ nannte. Das Begründete an der Sache ist, daß das Wort Realismus in solcher Verbindung nur das Wort Naturwahrheit zu ersetzen hat, und stellt man in Bezug auf Wilhelmine v. Hillern die Frage richtig so, inwiefern ihre Menschen, ihre Landschaften und
Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie.. Deutsche Rundschau. Herausgegeben von Julius Rodenberg. Gebrüder Paetell., Berlin 1880, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DeutscheRundschau_1880_23_107.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)