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Seite:De Studien über Hysterie 255.jpg

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um es mit anderen Worten zu sagen, wie häufig ein Symptom mehrfach determinirt, überbestimmt ist.

Mein Versuch, die Organisation des pathogenen psychischen Materials zu veranschaulichen, wird abgeschlossen sein, wenn ich noch eine einzige Complication einführe. Es kann nämlich der Fall vorliegen, dass es sich um mehr als einen einzigen Kern im pathogenen Material handle, so z. B. wenn ein zweiter hysterischer Ausbruch zu analysiren ist, der seine eigene Aetiologie hat, aber doch mit einem, Jahre vorher überwundenen, ersten Ausbruch acuter Hysterie zusammenhängt. Man kann sich dann leicht vorstellen, welche Schichten und Gedankenwege hinzukommen müssen, um zwischen den beiden pathogenen Kernen eine Verbindung herzustellen.

Ich will an das so gewonnene Bild von der Organisation des pathogenen Materiales noch die eine oder die andere Bemerkung anknüpfen. Wir haben von diesem Material ausgesagt, es benehme sich wie ein Fremdkörper; die Therapie wirke auch wie die Entfernung eines Fremdkörpers aus dem lebenden Gewebe. Wir sind jetzt in der Lage einzusehen, worin dieser Vergleich fehlt. Ein Fremdkörper geht keinerlei Verbindung mit den ihn umlagernden Gewebsschichten ein, obwohl er dieselben verändert, zur reactiven Entzündung nöthigt. Unsere pathogene psychische Gruppe dagegen lässt sich nicht sauber aus dem Ich herausschälen, ihre äusseren Schichten gehen allseitig in Antheile des normalen Ich über, gehören letzterem eigentlich ebenso sehr an wie der pathogenen Organisation. Die Grenze zwischen Beiden wird bei der Analyse rein conventionell, bald hier, bald dort gesteckt, ist an einzelnen Stellen wohl gar nicht anzugeben. Die inneren Schichten entfremden sich dem Ich immer mehr und mehr, ohne dass wiederum die Grenze des Pathogenen irgendwo sichtbar begänne. Die pathogene Organisation verhält sich nicht eigentlich wie ein Fremdkörper, sondern weit eher wie ein Infiltrat. Als das Infiltrirende muss in diesem Gleichniss der Widerstand genommen werden. Die Therapie besteht ja auch nicht darin, etwas zu exstirpiren, – das vermag die Psychotherapie heute nicht, – sondern den Widerstand zum Schmelzen zu bringen und so der Circulation den Weg in ein bisher abgesperrtes Gebiet zu bahnen.

(Ich bediene mich hier einer Reihe von Gleichnissen, die alle nur eine recht begrenzte Aehnlichkeit mit meinem Thema haben, und die sich auch unter einander nicht vertragen. Ich weiss dies, und bin nicht in Gefahr, deren Werth zu überschätzen, aber mich leitet

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_255.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)