könnte, als mich eine der Erscheinungen, die sie beschrieb, aufmerksam machte. Ein grosses schwarzes Kreuz, wie sie es sah, das geneigt stand, an seinen Rändern denselben Lichtschimmer wie vom Mondlicht hatte, in dem alle bisherigen Bilder erglänzt hatten, und auf dessen Balken ein Flämmchen flackerte; das war doch offenbar kein Phosphen mehr. Ich horchte nun auf; es kamen massenhafte Bilder in demselben Licht, eigenthümliche Zeichen, die etwa dem Sanscrit ähnlich sahen, ferner Figuren wie Dreiecke, ein grosses Dreieck darunter; wiederum das Kreuz … Diesmal vermuthe ich eine allegorische Bedeutung und frage, was soll dieses Kreuz? – Es ist wahrscheinlich der Schmerz gemeint, antwortet sie. – Ich wende ein, unter „Kreuz“ verstünde man meist eine moralische Last; was versteckt sich hinter dem Schmerz? – Sie weiss es nicht zu sagen und fährt in ihren Gesichten fort: Eine Sonne mit goldenen Strahlen, die sie auch zu deuten weiss, – das ist Gott, die Urkraft; dann eine riesengrosse Eidechse, die sie fragend, aber nicht schreckhaft anschaut, dann ein Haufen von Schlangen, dann wieder eine Sonne, aber mit milden, silbernen Strahlen, und vor ihr, zwischen ihrer Person und dieser Lichtquelle ein Gitter, welches ihr den Mittelpunkt der Sonne verdeckt.
Ich weiss längst, dass ich es mit Allegorien zu thun habe, und frage sofort nach der Bedeutung des letzten Bildes. Sie antwortet, ohne sich zu besinnen: Die Sonne ist die Vollkommenheit, das Ideal, und das Gitter sind meine Schwächen und Fehler, die zwischen mir und dem Ideal stehen. – Ja, machen Sie sich denn Vorwürfe, sind Sie mit sich unzufrieden? – Freilich. – Seit wann denn? – Seitdem ich Mitglied der theosophischen Gesellschaft bin und die von ihr herausgegebenen Schriften lese. Eine geringe Meinung von mir hatte ich immer. – Was hat denn zuletzt den stärksten Eindruck auf Sie gemacht? – Eine Uebersetzung aus dem Sanscrit, die jetzt in Lieferungen erscheint. – Eine Minute später bin ich in ihre Seelenkämpfe, in die Vorwürfe, die sie sich macht, eingeweiht und höre von einem kleinen Erlebniss, das zu einem Vorwurf Anlass gab, und bei dem der früher organische Schmerz als Erfolg einer Erregungsconversion zuerst auftrat. – Die Bilder, die ich anfangs für Phosphene gehalten hatte, waren Symbole occultistischer Gedankengänge, vielleicht geradezu Embleme von den Titelblättern occultistischer Bücher.
Ich habe jetzt die Leistungen der Hilfsprocedur des Drückens so warm gepriesen und den Gesichtspunkt der Abwehr oder des Widerstandes
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_243.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)