hinzufügen, seither sind die reinen Hysterien in meiner Erfahrung noch seltener geworden; wenn ich diese vier Fälle als Hysterie zusammenstellen und bei ihrer Erörterung von den für Sexualneurosen maassgebenden Gesichtspunkten absehen konnte, so liegt der Grund darin, dass es ältere Fälle sind, bei denen ich die absichtliche und dringende Forschung nach der neurotischen sexualen Unterlage noch nicht durchgeführt hatte. Und wenn ich anstatt dieser vier Fälle nicht zwölf mitgetheilt habe, aus deren Analyse eine Bestätigung des von uns behaupteten psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene zu gewinnen ist, so nöthigte mich zur Enthaltung nur der Umstand, dass die Analyse diese Krankheitsfälle gleichzeitig als Sexualneurosen enthüllte, obwohl ihnen den „Namen“ Hysterie gewiss kein Diagnostiker verweigert hätte. Die Aufklärung solcher Sexualneurosen überschreitet aber den Rahmen dieser unserer gemeinsamen Veröffentlichung.
Ich möchte nicht dahin missverstanden werden, als ob ich die Hysterie nicht als selbständige neurotische Affection gelten lassen wollte, als erfasste ich sie bloss als psychische Aeusserung der Angstneurose, als schriebe ich ihr bloss „ideogene“ Symptome zu und zöge die somatischen Symptome (hysterogene Punkte, Anästhesien) zur Angstneurose hinüber. Nichts von alledem; ich meine, man kann in jeder Hinsicht die von allen Beimengungen gereinigte Hysterie selbständig abhandeln, nur nicht in Hinsicht der Therapie. Denn bei der Therapie handelt es sich um praktische Ziele, um die Beseitigung des gesammten leidenden Zustandes, und wenn die Hysterie zumeist als Componente einer gemischten Neurose vorkommt, so liegt der Fall wohl ähnlich wie bei den Mischinfectionen, wo die Erhaltung des Lebens sich als Aufgabe stellt, die nicht mit der Bekämpfung der Wirkung des einen Krankheitserregers zusammenfällt.
Es ist mir darum so wichtig, den Antheil der Hysterie an den Bildern der gemischten Neurosen von dem der Neurasthenie, Angstneurose u. s. w. zu sondern, weil ich nach dieser Trennung einen knappen Ausdruck für den therapeutischen Werth der kathartischen Methode geben kann. Ich möchte mich nämlich der Behauptung getrauen, dass sie – principiell – sehr wohl im Stande ist, jedes beliebige hysterische Symptom zu beseitigen, während sie, wie leicht ersichtlich, völlig machtlos ist gegen Phänomene der Neurasthenie und nur selten und auf Umwegen die psychischen Folgen der Angstneurose beeinflusst. Ihre therapeutische Wirksamkeit wird also im einzelnen Falle davon abhängen, ob die hysterische Componente des Krankheitsbildes
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_227.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)