mit den bewusst ablaufenden Ideenreihen coexistiren, dass die Spaltung der Psyche (pag. 200) vollzogen ist. Es scheint sicher, dass diese auch ohne Hypnoid entstehen kann, aus der Fülle der abgewehrten, aus dem Bewusstsein verdrängten, aber nicht unterdrückten Vorstellungen. Auf die eine und die andere Weise entsteht ein bald ideenarmes, rudimentäres, bald dem wachen Denken mehr minder gleiches Gebiet psychischen Lebens, dessen Erkenntniss wir vor Allen Binet und Janet verdanken. Die Spaltung der Psyche ist die Vollendung der Hysterie; es wurde früher (Cap. V) dargelegt, wie sie die wesentlichen Charakterzüge der Krankheit erklärt. Dauernd, aber mit wechselnder Lebhaftigkeit seiner Vorstellungen, befindet sich ein Theil der Psyche des Kranken im Hypnoid, immer bereit, beim Nachlassen des wachen Denkens die Herrschaft über den ganzen Menschen zu gewinnen (Anfall, Delirium). Das geschieht, sobald ein starker Affect den normalen Vorstellungsablauf stört, in Dämmer- und in Erschöpfungszuständen. Aus diesem persistirenden Hypnoid herauf dringen unmotivirte, der normalen Association fremde Vorstellungen in's Bewusstsein, werden Hallucinationen in das Wahrnehmen geworfen, werden motorische Acte unabhängig vom bewussten Willen innervirt. Diese hypnoide Psyche ist im höchsten Grade befähigt zur Affectconversion und Suggestion, und so entstehen mit Leichtigkeit neue hysterische Phänomene, welche ohne die psychische Spaltung nur sehr schwer und unter dem Druck wiederholter Affecte zu Stande gekommen wären. Die abgespaltene Psyche ist jener Dämon, von dem die naive Beobachtung alter, abergläubischer Zeiten die Kranken besessen glaubte. Dass ein dem wachen Bewusstsein des Kranken fremder Geist in ihm walte, ist richtig; nur ist es kein wirklich fremder, sondern ein Theil seines eigenen.
Der hier gewagte Versuch, aus unseren heutigen Kenntnissen die Hysterie synthetisch zu construiren, steht dem Vorwurf des Eclecticismus offen, wenn dieser überhaupt berechtigt ist. So viele Formulirungen der Hysterie, von der alten „Reflextheorie“ bis zur „Dissociation der Persönlichkeit“ haben darin Platz finden müssen. Aber es kann kaum anders sein. So zahlreiche treffliche Beobachter und scharfsinnige Köpfe haben sich um die Hysterie bemüht. Es ist unwahrscheinlich, dass nicht jede ihrer Formulirungen einen Theil der Wahrheit enthalte. Die künftige Darstellung des wirklichen Sachverhaltes wird gewiss sie alle enthalten und nur all’ die einseitigen
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_220.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)