Ich habe oben auseinandergesetzt, warum die Anschauung Janet’s unannehmbar ist: Die Disposition zur Hysterie beruhe auf angeborener psychischer Schwäche. Der Praktiker, der als Hausarzt die Glieder hysterischer Familien in allen Altersstufen beobachtet, wird gewiss eher geneigt sein, diese Disposition in einem Ueberschuss als in einem Defect zu suchen. Die Adolescenten, welche später hysterisch werden, sind vor ihrer Erkrankung meist lebhaft, begabt, voll geistiger Interessen; ihre Willensenergie ist oft bemerkenswert. Zu ihnen gehören jene Mädchen, die Nachts aufstehen, um heimlich irgend ein Studium zu treiben, das ihnen die Eltern aus Furcht vor Ueberanstrengung versagten. Die Fähigkeit besonnenen Urtheils ist gewiss ihnen nicht reichlicher gegeben als anderen Menschen. Aber selten findet man unter ihnen einfache, stumpfe Geistesträgheit und Dummheit. Die überströmende Productivität ihrer Psyche brachte einen meiner Freunde zu der Behauptung: die Hysterischen seien die Blüte der Menschheit, freilich so steril, aber auch so schön wie die gefüllten Blumen.
Ihre Lebhaftigkeit und Unrast, ihr Bedürfnis nach Sensationen und geistiger Thätigkeit, ihre Unfähigkeit, Monotonie und Langweile zu ertragen, lassen sich so formuliren: sie gehörten zu jenen Menschen, deren Nervensystem in der Ruhe ein Uebermaass von Erregung frei macht, welches Verwendung fordert (s. pag. 172). Während und infolge der Pubertätsentwicklung tritt zu dem originären Ueberschuss noch jene gewaltige Steigerung der Erregung, welche von der erwachenden Sexualität, von den Geschlechtsdrüsen ausgeht. Nun ist ein übergrosses Quantum freier nervöser Erregung verfügbar für pathologische Phänomene: aber, damit diese in Form hysterischer Krankheitserscheinungen auftreten, dazu braucht es offenbar noch einer anderen, specifischen Eigenart des Individuums. Denn die grosse Mehrzahl der lebhaften, erregten Menschen wird ja doch nicht hysterisch.
Diese Eigenart konnte ich oben nur mit dem vagen und inhaltsarmen Worte: „abnorme Erregbarkeit des Nervensystems“ bezeichnen. Man kann aber doch vielleicht weiter gehen und sagen: diese Abnormität liege eben darin, dass bei solchen Menschen in die Nervenapparate der Empfindung, welche de norma nur peripheren Reizen zugänglich sind, und in diejenigen der vegetativen Organe, welche durch starke Widerstände vom Centralnervensystem isolirt sind, die Erregung des Centralorgans einströmen kann. Diese Vorstellung von dem immer vorhandenen Erregungsüberschuss, welchem die sensiblen, vasomotorischen und visceralen Apparate zugänglich sind, kann vielleicht schon einige pathologische Phänomene decken.
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_211.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)