oben erzählten Falle die Contractur, sind ja viele der hysterischen Phänomene von langer continuirlicher Dauer. Sollen und können wir annehmen, dass all die Zeit hindurch die veranlassende Vorstellung immer lebendig, actuell vorhanden sei? Ich glaube: Ja. Gewiss sehen wir beim Gesunden die psychische Thätigkeit mit raschem Wechsel der Vorstellungen sich vollziehen. Aber wir sehen den schwer Melancholischen lange Zeit continuirlich in dieselbe peinliche Vorstellung versunken, die immer lebendig, actuell ist. Ja, wir dürfen wohl glauben, dass auch beim Gesunden eine schwere Sorge immer vorhanden sei, da sie den Gesichtsausdruck beherrscht, selbst wenn das Bewusstsein von anderen Gedanken erfüllt ist. Jener abgetrennte Theil der psychischen Thätigkeit aber, den wir beim Hysterischen von den unbewussten Vorstellungen erfüllt denken, ist meist so ärmlich damit besetzt, so unzugänglich dem Wechsel der äusseren Eindrücke, dass wir glauben können, hier sei einer Vorstellung dauernde Lebhaftigkeit möglich.
Wenn uns, wie Binet und Janet, die Abspaltung eines Theiles der psychischen Thätigkeit im Mittelpunkte der Hysterie zu stehen scheint, so sind wir verpflichtet, über dieses Phänomen möglichst Klarheit zu suchen. Allzuleicht verfällt man in die Denkgewohnheit, hinter einem Substantiv eine Substanz anzunehmen, unter „Bewusstsein“ „conscience“ allmählich ein Ding zu verstehen; und wenn man sich gewöhnt hat, metaphorisch Localbeziehungen zu verwenden, wie „Unterbewusstsein“, so bildet sich mit der Zeit wirklich eine Vorstellung aus, in der die Metapher vergessen ist, und mit der man leicht manipulirt wie mit einer realen. Dann ist die Mythologie fertig.
All unserem Denken drängen sich als Begleiter und Helfer räumliche Vorstellungen auf, und wir sprechen in räumlichen Metaphern. So stellen sich die Bilder von dem Stamm des Baumes, der im Licht steht, und seinen Wurzeln im Dunkel, oder von dem Gebäude und seinem dunkeln Souterrain fast zwingend ein, wenn wir von den Vorstellungen sprechen, die im Gebiet des hellen Bewusstseins sich vorfinden, und den unbewussten, die nie in die Klarheit des Selbstbewusstseins treten. Wenn wir uns aber immer gegenwärtig halten, dass alles Räumliche hier Metapher ist, und uns nicht etwa verleiten lassen, es im Gehirn zu localisiren, so mögen wir immerhin von einem Bewusstsein und einem Unterbewusstsein sprechen. Aber nur mit diesem Vorbehalt.
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_199.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)