Bei solchen Kranken ist es Regel, dass die Stimmungsveränderung, Aengstlichkeit, zornige Gereiztheit, Trauer dem Auftreten des somatischen Symptoms vorhergeht oder ihm alsbald folgt, um anzuwachsen, bis entweder durch eine Aussprache die Lösung erfolgt oder Affect und somatische Phänomene allmählich wieder schwinden. Geschah das erstere, so wurde die Qualität des Affectes immer ganz verständlich, wenn auch seine Intensität dem Gesunden und nach der Lösung auch dem Kranken selbst ganz unproportional erscheinen musste. Das sind also Vorstellungen, welche intensiv genug sind, um nicht bloss starke, körperliche Phänomene zu verursachen, sondern auch den zugehörigen Affect hervorzurufen, die Association zu beeinflussen, indem verwandte Gedanken durch sie bevorzugt werden, – und dennoch selbst ausserhalb des Bewusstseins bleiben. Es bedarf der Hypnose, wie in Beobachtung I und II, oder intensiver Nachhilfe des Arztes (Beobachtung IV, V) bei dem mühsamsten Suchen, um sie in's Bewusstsein zu bringen.
Solche Vorstellungen, welche (actuell aber) unbewusst sind, nicht wegen relativ schwacher Lebhaftigkeit, sondern trotz grosser Intensität, mögen wir bewusstseinsunfähige[1] Vorstellungen nennen.
Die Existenz solcher bewusstseinsunfähigen Vorstellungen ist pathologisch. Beim Gesunden treten alle Vorstellungen, welche überhaupt actuell werden können, bei genügender Intensität auch in's Bewusstsein. Bei unsern Kranken finden wir neben einander den grossen Complex bewusstseinsfähiger und einen kleineren bewusstseinsunfähiger Vorstellungen. Das Gebiet der vorstellenden psychischen Thätigkeit fällt bei ihnen also nicht zusammen mit dem potentiellen Bewusstsein; sondern dieses ist beschränkter als jenes. Die psychische vorstellende Thätigkeit zerfällt hier in eine bewusste und unbewusste, die Vorstellungen in bewusstseinsfähige und nicht bewusstseinsfähige. Wir können also nicht von einer Spaltung des Bewusstseins sprechen, wohl aber von einer Spaltung der Psyche.
Umgekehrt sind diese unterbewussten Vorstellungen auch durch das bewusste Denken nicht zu beeinflussen und nicht zu corrigiren. Vielfach handelt es sich um Erlebnisse, die seitdem inhaltlos geworden sind, Furcht vor Ereignissen, die nicht eingetroffen sind,
- ↑ Der Ausdruck ist nicht eindeutig und lässt darum sehr zu wünschen übrig; aber nach der Analogie von „hoffähig“ gebildet, mag er in Ermanglung eines besseren unterdessen gebraucht werden.
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_197.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)