Wenn dem Affect eine solche Abfuhr der Erregung aber überhaupt versagt wird, dann ist die Sachlage die gleiche beim Zorne wie bei Schreck und Angst: die intracerebrale Erregung ist gewaltig gesteigert, aber sie wird weder in associativer noch in motorischer Thätigkeit verbraucht. Beim normalen Menschen gleicht sich die Störung allmählich aus; bei manchen treten aber anomale Reactionen auf, es bildet sich der „anomale Ausdruck der Gemütsbewegungen“ (Oppenheim).
Es wird wohl kaum den Verdacht erregen, ich identificirte die Nervenerregung mit der Elektricität, wenn ich noch einmal auf den Vergleich mit einer elektrischen Anlage zurückkomme. Wenn in einer solchen die Spannung übergross wird, so besteht die Gefahr, dass schwächere Stellen der Isolation durchbrochen werden. Es treten dann elektrische Erscheinungen an abnormen Stellen auf; oder, wenn zwei Drähte nebeneinander liegen, bildet sich ein „kurzer Schluss“. Da an diesen Stellen eine bleibende Veränderung gesetzt wird, kann die dadurch bedingte Störung immer wieder erscheinen, wenn die Spannung genügend gesteigert ist. Es hat eine abnorme „Bahnung“ stattgefunden.
Man kann wohl behaupten, dass die Verhältnisse des Nervensystems einigermaassen ähnliche sind. Es ist ein durchaus zusammen hängendes Ganzes; aber es sind an vielen Stellen grosse, doch nicht unüberwindbare, Widerstände eingeschaltet, welche die allgemeine gleichmässige Ausbreitung der Erregung verhindern. So geht im normalen wachen Menschen die Erregung des Vorstellungsorganes nicht auf die Perceptionsorgane über, wir halluciniren nicht. Die nervösen Apparate der lebenswichtigen Organcomplexe, der Circulation und Verdauung, sind im Interesse der Sicherheit und Leistungsfähigkeit des Organismus, durch starke Widerstände von den Organen der Vorstellung getrennt, ihre Selbstständigkeit ist gewahrt; sie sind directe durch Vorstellungen nicht beeinflusst. Aber nur Widerstände von individuell verschiedener Stärke hindern den Uebergang der intracerebralen Erregung auf die Circulations- und Verdauungsapparate; zwischen dem heute seltenen Ideal des absolut nicht „nervösen“ Menschen, dessen Herzaction in jeder Lebenslage constant bleibt und nur durch die zu leistende Arbeit beeinflusst wird, der in jeder Gefahr gleichmässig guten Appetit hat und verdaut, – und dem „nervösen“ Menschen, dem jedes Ereigniss Herzklopfen und Diarrhöe
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_177.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)