Ein Ueberschuss davon belastet und belästigt, und es entsteht der Trieb ihn zu verbrauchen. Ist ein Verbrauch durch Sinnes- oder Vorstellungsthätigkeit nicht möglich, so strömt der Ueberschuss in zweckloser motorischer Action ab, im Auf- und Abgehen u. dgl., welches wir auch weiterhin als die häufigste Art der Entladung übergrosser Spannungen antreffen werden.
Es ist bekannt, wie gross die individuelle Verschiedenheit in dieser Hinsicht ist; wie sehr sich die lebhaften Menschen von den trägen, torpiden hierin unterscheiden; diejenigen, welche „nicht ruhig sitzen können“, von denen, die „ein angeborenes Talent zum Canapésitzen haben“; die geistig beweglichen von den stumpfen, welche ungemessene Zeiten geistiger Ruhe vertragen. Diese Verschiedenheiten, welche das „geistige Temperament“ der Menschen ausmachen, beruhen gewiss auf tiefen Unterschieden ihres Nervensystems; auf dem Ausmaass, in welchem die functionell ruhenden Hirnelemente Energie frei werden lassen.
Wir sprachen von einer Tendenz des Organismus, die tonische Hirnerregung constant zu erhalten; eine solche ist uns doch nur verständlich, wenn wir einsehen können, welches Bedürfniss durch sie erfüllt wird. Wir begreifen die Tendenz, die mittlere Temperatur des Warmblüters constant zu erhalten, weil wir sie erfahrungsgemäss als ein Optimum für die Function der Organe kennen. Und wir setzen Aehnliches für die Constanz des Wassergehaltes im Blute u. a. m. voraus. Ich glaube, man darf auch von der Höhe der intracerebralen tonischen Erregung annehmen, dass sie ein Optimum habe. Auf diesem Niveau der tonischen Erregung ist das Gehirn zugänglich für alle äusseren Reize, die Reflexe sind gebahnt, aber nur in dem Ausmaass normaler reflectorischer Thätigkeit, der Besitz an Vorstellungen ist der Erweckung und Association zugänglich in jenem gegenseitigen relativen Verhältniss der einzelnen Vorstellungen, welches klarer Besonnenheit entspricht; es ist der Zustand bester Arbeitsbereitschaft. Schon jene gleichmässige Erhöhung der tonischen Erregung, welche die „Erwartung“ ausmacht, verändert die Verhältnisse. Sie macht hyperästhetisch für Sinnesreize, welche alsbald peinlich werden, und erhöht die Reflexerregbarkeit über das Nützliche (Schreckhaftigkeit). Gewiss ist dieser Zustand für manche Situationen und Zwecke nützlich; wenn er aber spontan, ohne solche Vorbedingungen, eintritt, so bessert er unsere Leistungsfähigkeit nicht, sondern schädigt sie. Wir nennen das im gewöhnlichen Leben „nervös sein“. – Bei der weitaus grösseren Zahl
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_172.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)