Vom tiefsten, traumlosen Schlafe können wir directe nichts aussagen, weil eben durch den Zustand völliger Bewusstlosigkeit jede Beobachtung und Erfahrung ausgeschlossen ist. Von dem benachbarten Zustand des Traumschlafes aber wissen wir, dass wir darin willkürliche Bewegungen intendiren, sprechen, gehen u. s. w., ohne dass dadurch die entsprechenden Muskelcontractionen wirklich ausgelöst würden, wie es im Wachen geschieht; dass sensible Reize vielleicht percipirt werden (da sie oft in den Traum eingehen), aber nicht appercipirt, das heisst, nicht zu bewussten Wahrnehmungen werden; dass auftauchende Vorstellungen nicht, wie im Wachen, alle mit ihnen zusammenhängenden, im potentiellen Bewusstsein vorhandenen Vorstellungen actuell machen, sondern dass grosse Massen hievon unerregt bleiben (wie wenn wir mit einem Verstorbenen sprechen, ohne uns seines Todes zu erinnern); dass auch unvereinbare Vorstellungen zugleich bestehen können, ohne sich wie im Wachen wechselseitig zu hemmen; dass also die Association mangelhaft und unvollständig erfolgt. Wir dürfen wohl annehmen, dass im tiefsten Schlafe diese Aufhebung des Zusammenhanges zwischen den psychischen Elementen eine noch vollständigere, complete ist.
Dem gegenüber löst im hellen Wachen jeder Willensakt die zugehörige Bewegung aus, die sensiblen Eindrücke werden zu Wahrnehmungen, die Vorstellungen associiren sich mit dem ganzen Besitz des potentiellen Bewusstseins. Das Gehirn ist dann eine im vollständigen inneren Zusammenhange arbeitende Einheit.
Es ist vielleicht nur eine Umschreibung dieser Thatsachen, wenn wir sagen, dass im Schlafe die Verbindungs- und Leitungsbahnen des Gehirnes für die Erregung der psychischen Elemente (Rindenzellen?) nicht, im Wachen aber vollständig gangbar sind.
Die Existenz dieser beiden verschiedenen Zustände der Leitungsbahnen wird verständlich wohl nur durch die Annahme, dass sie sich während des Wachens in tonischer Erregung befinden (intercellulärer Tetanus Exner’s); dass diese tonische intracerebrale Erregung ihre Leitungsfähigkeit bedingt, und dass ihr Absinken und Schwinden eben den Zustand des Schlafes herstellt.
Wir hätten uns eine cerebrale Leitungsbahn nicht wie einen Telephondraht vorzustellen, der nur dann elektrisch erregt ist, wenn er fungiren, das heisst hier: ein Zeichen übertragen soll; sondern wie eine jener Telephonleitungen, durch welche constant ein galvanischer Strom fliesst, und welche unerregbar werden, wenn dieser schwindet.
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_168.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)