in welchem der Vorstellungskreis ihrer Pflichten gegen den kranken Vater mit dem damaligen Inhalt ihres erotischen Sehnens in Conflict gerieth. Sie entschied sich unter lebhaften Selbstvorwürfen für den ersteren und schuf sich dabei den hysterischen Schmerz. Nach der Auffassung, welche die Conversionstheorie der Hysterie nahe legt, wäre der Vorgang folgender Art darzustellen: Sie verdrängte die erotische Vorstellung aus ihrem Bewusstsein und wandelte deren Affectgrösse in somatische Schmerzempfindung um. Ob sich ihr dieser erste Conflict ein einziges Mal oder wiederholte Male darbot, wurde nicht klar; wahrscheinlicher ist das Letztere. Ein ganz ähnlicher Conflict – indess von höherer moralischer Bedeutung und durch die Analyse noch besser bezeugt – wiederholte sich nach Jahren und führte zur Steigerung derselben Schmerzen und zu deren Ausbreitung über die anfänglich besetzten Grenzen. Wiederum war es ein erotischer Vorstellungskreis, der in Conflict mit all ihren moralischen Vorstellungen gerieth, denn die Neigung bezog sich auf ihren Schwager, und sowohl zu Lebzeiten als nach dem Tode ihrer Schwester war es ein für sie unannehmbarer Gedanke, dass sie sich gerade nach diesem Manne sehnen sollte. Ueber diesen Conflict, welcher den Mittelpunkt der Krankengeschichte darstellt, gibt die Analyse ausführliche Auskunft. Die Neigung der Kranken zu ihrem Schwager mochte seit Langem gekeimt haben, ihrer Entwicklung kam die körperliche Erschöpfung durch neuerliche Krankenpflege, die moralische Erschöpfung durch mehrjährige Enttäuschungen zu Gute, ihre innerliche Sprödigkeit begann sich damals zu lösen, und sie gestand sich das Bedürfniss nach der Liebe eines Mannes ein. Während eines über Wochen ausgedehnten Verkehres (in jenem Curort) gelangte diese erotische Neigung gleichzeitig mit den Schmerzen zur vollen Ausbildung, und für dieselbe Zeit bezeugt die Analyse einen besonderen psychischen Zustand der Kranken, dessen Zusammenhalt mit der Neigung und den Schmerzen ein Verständniss des Vorganges im Sinne der Conversionstheorie zu ermöglichen scheint.
Ich muss mich nämlich der Behauptung getrauen, dass die Kranke zu jener Zeit sich der Neigung zu ihrem Schwager, so intensiv selbe auch war, nicht klar bewusst wurde, ausser bei einzelnen seltenen Veranlassungen, und dann nur für Momente. Wäre es anders gewesen, so hätte sie sich auch des Widerspruches zwischen dieser Neigung und ihren moralischen Vorstellungen bewusst werden und ähnliche Seelenqualen überstehen müssen, wie ich sie nach unserer
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_144.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)