sträubte. Es war ihr gelungen, sich die schmerzliche Gewissheit, dass sie den Mann ihrer Schwester liebe, zu ersparen, indem sie sich dafür körperliche Schmerzen schuf, und in Momenten, wo sich ihr diese Gewissheit aufdrängen wollte (auf dem Spaziergang mit ihm, während jener Morgenträumerei, im Bade, vor dem Bette der Schwester) waren durch gelungene Conversion in's Somatische jene Schmerzen entstanden. Zur Zeit, da ich sie in Behandlung nahm, war die Absonderung der auf diese Liebe bezüglichen Vorstellungsgruppe von ihrem Wissen bereits vollzogen; ich meine, sie hätte sonst niemals einer solchen Behandlung zugestimmt; der Widerstand, den sie zu wiederholten Malen der Reproduction von traumatisch wirksamen Scenen entgegengesetzt hatte, entsprach wirklich der Energie, mit welcher die unverträgliche Vorstellung aus der Association gedrängt worden war.
Für den Therapeuten kam aber zunächst eine böse Zeit. Der Effect der Wiederaufnahme jener verdrängten Vorstellung war ein niederschmetternder für das arme Kind. Sie schrie laut auf, als ich den Sachverhalt mit den trockenen Worten zusammenfasste: Sie waren also seit langer Zeit in Ihren Schwager verliebt. Sie klagte über die grässlichsten Schmerzen in diesem Augenblick, sie machte noch eine verzweifelte Anstrengung, die Aufklärung zurückzuweisen. Es sei nicht wahr, ich habe es ihr eingeredet, es könne nicht sein, einer solchen Schlechtigkeit sei sie nicht fähig. Das würde sie sich auch nie verzeihen. Es war leicht, ihr zu beweisen, dass ihre eigenen Mittheilungen keine andere Deutung zuliessen, aber es dauerte lange, bis meine beiden Trostgründe, dass man für Empfindungen unverantwortlich sei, und dass ihr Verhalten, ihr Erkranken unter jenen Anlässen ein genügendes Zeugniss für ihre moralische Natur sei, bis diese Tröstungen, sage ich, Eindruck auf sie machten.
Ich musste jetzt mehr als einen Weg einschlagen, um der Kranken Linderung zu verschaffen. Zunächst wollte ich ihr Gelegenheit geben, sich der seit langer Zeit aufgespeicherten Erregung durch „Abreagiren“ zu entledigen. Wir forschten den ersten Eindrücken aus dem Verkehr mit ihrem Schwager, dem Beginne jener unbewusst gehaltenen Neigung nach. Es fanden sich hier alle jene kleinen Vorzeichen und Ahnungen, aus denen eine voll entwickelte Leidenschaft in der Rückschau so viel zu machen versteht. Er hatte bei seinem ersten Besuch im Hause sie für die ihm bestimmte Braut gehalten und sie vor der älteren, aber unscheinbaren Schwester begrüsst. Eines Abends unterhielten sie sich so lebhaft mit einander und schienen
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_137.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)