über sie herein, die sie seither nicht verlassen hatten. Ich versuchte zu erforschen, mit was für Gedanken sie sich damals im Bade beschäftigt; es ergab sich aber nur, dass das Badhaus sie an ihre abgereisten Geschwister erinnert, weil diese in demselben Haus gewohnt hatten.
Mir musste längst klar geworden sein, um was es sich handle; die Kranke schien in schmerzlich-süsse Erinnerungen versunken, nicht zu bemerken, welchem Aufschluss sie zusteuere, und setzte die Wiedergabe ihrer Reminiscenzen fort. Es kam die Zeit in Gastein, die Sorge, mit der sie jedem Briefe entgegensah; endlich die Nachricht, dass es der Schwester schlecht gienge, das lange Warten bis zum Abend, an dem sie erst Gastein verlassen konnten. Die Fahrt in qualvoller Ungewissheit, in schlafloser Nacht, – alles als Momente, die von heftiger Steigerung der Schmerzen begleitet waren. Ich fragte, ob sie sich während der Fahrt die traurige Möglichkeit vorgestellt, die sich dann verwirklicht fand. Sie antwortete, sie sei dem Gedanken sorgsam ausgewichen, die Mutter aber habe, nach ihrer Meinung, vom Anfang an das Schlimmste erwartet. – Nun folgte ihre Erinnerung der Ankunft in Wien, der Eindrücke, die sie von den erwartenden Verwandten empfiengen, der kleinen Reise von Wien in die nahe Sommerfrische, in der die Schwester wohnte, der Ankunft dort am Abend, des eilig zurückgelegten Weges durch den Garten bis zur Thüre des kleinen Gartenpavillons, – die Stille im Hause, die beklemmende Dunkelheit; dass der Schwager sie nicht empfieng; dann standen sie vor dem Bette, sahen die Todte, und in dem Momente der grässlichen Gewissheit, dass die geliebte Schwester gestorben sei, ohne von ihnen Abschied zu nehmen, ohne ihre letzten Tage durch ihre Pflege verschönt zu haben, – in demselben Momente hatte ein anderer Gedanke Elisabeth's Hirn durchzuckt, der sich jetzt unabweisbar wieder eingestellt hatte, der Gedanke, der wie ein greller Blitz durch's Dunkel fuhr: Jetzt ist er wieder frei, und ich kann seine Frau werden.
Nun war freilich alles klar. Die Mühe des Analytikers war reichlich gelohnt worden: Die Ideen der „Abwehr“ einer unverträglichen Vorstellung, der Entstehung hysterischer Symptome durch Conversion psychischer Erregung in's Körperliche, die Bildung einer separaten psychischen Gruppe durch den Willensact, der zur Abwehr führt; dies alles wurde mir in jenem Moment greifbar vor Augen gerückt. So und nicht anders war es hier zugegangen. Dieses Mädchen hatte ihrem Schwager eine zärtliche Neigung geschenkt, gegen deren Aufnahme in ihr Bewusstsein sich ihr ganzes moralisches Wesen
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_136.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)