ein Zusammenwohnen mit der Mutter war aus Rücksicht auf die unverheirathete Schwägerin unthunlich, und indem er sich weigerte, den beiden Frauen das Kind, das einzige Erbtheil der Todten, zu überlassen, gab er ihnen zum ersten Mal Gelegenheit, ihn der Härte zu beschuldigen. Endlich – und diess war nicht das am mindesten Peinliche – hatte Elisabeth dunkle Kunde von einem Zwist bekommen, der zwischen beiden Schwägern ausgebrochen war, und dessen Anlass sie nur ahnen konnte. Es schien aber, als ob der Witwer in Vermögensangelegenheiten Forderungen erhoben hätte, die der andere Schwager für ungerechtfertigt hinstellte, ja die er mit Rücksicht auf den frischen Schmerz der Mutter als eine arge Erpressung bezeichnen konnte. Diess also war die Leidensgeschichte des ehrgeizigen und liebebedürftigen Mädchens. Mit ihrem Schicksal grollend, erbittert über das Fehlschlagen all ihrer kleinen Pläne, den Glanz des Hauses wiederherzustellen; – ihre Lieben theils gestorben, theils entfernt, theils entfremdet; – ohne Neigung, eine Zuflucht in der Liebe eines fremden Mannes zu suchen, lebte sie seit 1½ Jahren, fast von jedem Verkehr abgeschieden, der Pflege ihrer Mutter und ihrer Schmerzen.
Wenn man an grösseres Leid vergessen und sich in das Seelenleben eines Mädchens versetzen wollte, konnte man Fräulein Elisabeth eine herzliche menschliche Theilnahme nicht versagen. Wie stand es aber mit dem ärztlichen Interesse für diese Leidensgeschichte, mit den Beziehungen derselben zu ihrer schmerzhaften Gehschwäche, mit den Aussichten auf Klärung und Heilung dieses Falles, die sich etwa aus der Kenntniss dieser psychischen Traumen ergaben?
Für den Arzt bedeutete die Beichte der Patientin zunächst eine grosse Enttäuschung. Es war ja eine aus banalen seelischen Erschütterungen bestehende Krankengeschichte, aus der sich weder erklärte, warum die Betroffene an Hysterie erkranken musste noch wieso die Hysterie gerade die Form der schmerzhaften Abasie angenommen hatte. Es erhellte weder die Verursachung, noch die Determinirung der hier vorliegenden Hysterie. Man konnte etwa annehmen, dass die Kranke eine Association hergestellt hatte zwischen ihren seelischen schmerzlichen Eindrücken und körperlichen Schmerzen, die sie zufällig zur gleichen Zeit verspürt hatte, und dass sie nun in ihrem Erinnerungsleben die körperliche Empfindung als Symbol der seelischen verwendete. Welches Motiv sie etwa für diese Substituirung hatte, in welchem Moment diese vollzogen wurde, diess blieb unaufgeklärt. Es waren diess allerdings Fragen, deren Aufstellung bisher
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_124.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)