waren beide Arten von Schmerzhaftigkeit an den Oberschenkeln am stärksten ausgebildet. Die motorische Kraft der Beine war nicht gering zu nennen, die Reflexe von mittlerer Intensität; alle anderen Symptome fehlten, so dass sich kein Anhaltspunkt für die Annahme ernsterer organischer Affection ergab. Das Leiden war seit zwei Jahren allmählich entwickelt, wechselte sehr in seiner Intensität.
Ich hatte es nicht leicht, zu einer Diagnose zu gelangen, entschloss mich aber aus zwei Gründen, der meines Collegen beizupflichten. Für’s erste war es auffällig, wie unbestimmt alle Angaben der doch hochintelligenten Kranken über die Charaktere ihrer Schmerzen lauteten. Ein Kranker, der an organischen Schmerzen leidet, wird, wenn er nicht etwa nebenbei nervös ist, diese bestimmt und ruhig beschreiben, sie seien etwa lancinirend, kämen in gewissen Intervallen, erstreckten sich von dieser bis zu dieser Stelle und würden nach seiner Meinung durch diese und jene Einflüsse hervorgerufen. Der Neurastheniker,[1] der seine Schmerzen beschreibt, macht dabei den Eindruck, als sei er mit einer schwierigen geistigen Arbeit beschäftigt, die weit über seine Kräfte geht. Seine Gesichtszüge sind gespannt und wie unter der Herrschaft eines peinlichen Affectes verzerrt, seine Stimme wird schriller, er ringt nach Ausdruck, weist jede Bezeichnung, die ihm der Arzt für seine Schmerzen vorschlägt, zurück, auch wenn sie sich später als unzweifelhaft passend herausstellt; er ist offenbar der Meinung, die Sprache sei zu arm, um seinen Empfindungen Worte zu leihen; diese Empfindungen selbst seien etwas einziges, noch nicht dagewesenes, das man gar nicht erschöpfend beschreiben könne, und darum wird er auch nicht müde, immer neue Details hinzuzufügen, und wenn er abbrechen muss, beherrscht ihn sicherlich der Eindruck, es sei ihm nicht gelungen, sich dem Arzt verständlich zu machen. Das kommt daher, dass seine Schmerzen seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Bei Frl. v. R. war das entgegengesetzte Verhalten, und man musste daraus schliessen, da sie doch den Schmerzen Bedeutung genug beilegte, dass ihre Aufmerksamkeit bei etwas anderem verweilte, wovon die Schmerzen nur ein Begleitphänomen seien, wahrscheinlich also bei Gedanken und Empfindungen, die mit den Schmerzen zusammenhiengen.
Noch mehr bestimmend für die Auffassung der Schmerzen musste aber ein zweites Moment sein. Wenn man eine schmerzhafte Stelle bei einem organisch Kranken oder einem Neurastheniker reizt, so zeigt
- ↑ (Hypochonder, mit Angstneurose Behaftete.)
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_117.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)