Ich sagte also: „Wenn Sie’s nicht wissen, will ich Ihnen sagen, wovon ich denke, dass Sie Ihre Anfälle bekommen haben. Sie haben einmal, damals vor zwei Jahren, etwas gesehen oder gehört, was Sie sehr genirt hat, was Sie lieber nicht möchten gesehen haben.“
Sie darauf: „Jesses ja, ich hab’ ja den Onkel bei dem Mädel erwischt, bei der Francisca, meiner Cousine!“
„Was ist das für eine Geschichte mit dem Mädel? Wollen Sie mir die nicht erzählen?“
„Einem Doctor darf man ja alles sagen. Also wissen Sie, der Onkel, er war der Mann von meiner Tant’, die Sie da gesehen haben, hat damals mit der Tant’ das Wirthshaus auf dem **kogel gehabt; jetzt sind sie geschieden, und ich bin Schuld daran, dass sie geschieden sind, weil’s durch mich aufgekommen ist, dass er’s mit der Francisca hält.“
„Ja, wie sind Sie zu der Entdeckung gekommen?“
„Das war so. Vor zwei Jahren sind einmal ein paar Herren heraufgekommen und haben zu essen verlangt. Die Tant’ war nicht zu Haus’, und die Francisca war nirgends zu finden, die immer gekocht hat. Der Onkel war auch nicht zu finden. Wir suchen sie überall, da sagt der Bub, der Alois, mein Cousin: ‚Am End’ ist die Francisca beim Vatern‘. Da haben wir beide gelacht, aber gedacht haben wir uns nichts Schlechtes dabei. Wir gehen zum Zimmer, wo der Onkel gewohnt hat, das ist zugesperrt. Das war mir aber auffällig. Sagt der Alois: Am Gang ist ein Fenster, da kann man hineinschauen in’s Zimmer. Wir gehen auf den Gang. Aber der Alois mag nicht zum Fenster, er sagt, er fürcht sich. ‚Da sag’ ich: Du dummer Bub, ich geh hin, ich fürcht’ mich gar nicht‘. Ich habe auch gar nichts Arges im Sinne gehabt. Ich schau hinein, das Zimmer war ziemlich dunkel, aber da seh ich den Onkel und die Francisca, und er liegt auf ihr.“
„Nun?“
„Ich bin gleich weg vom Fenster, hab’ mich an die Mauer angelehnt, hab’ die Athemnoth bekommen, die ich seitdem hab’, die Sinne sind mir vergangen, die Augen hat es mir zugedrückt und im Kopf hat es gehämmert und gebraust.“
„Haben Sie’s gleich am selben Tag der Tante gesagt?“
„O nein, ich hab nichts gesagt.“
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_109.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)