von der Hauptstrasse abwich, um einen abseits gelegenen Berg zu besteigen, der als Aussichtspunkt und wegen seines gut gehaltenen Schutzhauses gerühmt wurde. Nach anstrengender Wanderung oben angelangt, gestärkt und ausgeruht sass ich dann, in die Betrachtung einer entzückenden Fernsicht versunken, so selbstvergessen da, dass ich es erst nicht auf mich beziehen wollte, als ich die Frage hörte: „Ist der Herr ein Doctor?“ Die Frage galt aber mir und kam von dem etwa 18jährigen Mädchen, das mich mit ziemlich mürrischer Miene zur Mahlzeit bedient hatte und von der Wirthin „Katharina“ gerufen worden war. Nach ihrer Kleidung und ihrem Betragen konnte sie keine Magd, sondern musste wohl eine Tochter oder Verwandte der Wirthin sein.
Ich antwortete, zur Selbstbesinnung gelangt: „Ja, ich bin ein Doctor. Woher wissen Sie das?“
„Der Herr hat sich in’s Fremdenbuch eingeschrieben, und da hab’ ich mir gedacht, wenn der Herr Doctor jetzt ein bischen Zeit hätte –, ich bin nämlich nervenkrank und war schon einmal bei einem Doctor in L..., der hat mir auch etwas gegeben, aber gut ist mir noch nicht geworden.“
Da war ich also wieder in den Neurosen, denn um etwas anderes konnte es sich bei dem grossen und kräftigen Mädchen mit der vergrämten Miene kaum handeln. Es interessirte mich, dass Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten, ich fragte also weiter.
Die Unterredung, die jetzt zwischen uns vorfiel, gebe ich so wieder, wie sie sich meinem Gedächtniss eingeprägt hat, und lasse der Patientin ihren Dialect.
„An was leiden Sie denn?“
„Ich hab’ so Athemnoth; nicht immer, aber manchmal packt’s mich so, dass ich glaube, ich erstick’.“
Das klang nun zunächst nicht nervös, aber es wurde mir gleich wahrscheinlich, dass es nur eine ersetzende Bezeichnung für einen Angstanfall sein sollte. Aus dem Empfindungscomplex der Angst hob sie das eine Moment der Athembeengung ungebührlich hervor.
„Setzen Sie sich her. Beschreiben Sie mir’s, wie ist denn so ein Zustand von „Athemnoth“?“
„Es kommt plötzlich über mich. Dann legt’s sich zuerst wie ein Druck auf meine Augen, der Kopf wird so schwer und sausen thut’s, nicht auszuhalten, und schwindlich bin ich, dass ich glaub’, ich fall’ um, und dann presst’s mir die Brust zusammen, dass ich keinen Athem krieg’.“
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_107.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)