doch nicht recht, einen alten Herrn so anzufahren, der ein lieber Freund und noch dazu Gast ist. Man kann das ja auch ruhig sagen. – Also hat Sie nur die heftige Form Ihres Herrn verletzt? Haben Sie sich vielleicht für ihn genirt oder haben Sie gedacht, wenn er wegen einer solchen Kleinigkeit so heftig sein kann mit einem alten Freunde und Gast, wie wäre er es erst mit mir, wenn ich seine Frau wäre? – Nein, das ist es nicht. – Es war aber doch wegen der Heftigkeit? – Ja, wegen des Küssens der Kinder, das hat er nie gemocht. – Und nun taucht wieder unter dem Drucke meiner Hand die Erinnerung an eine noch ältere Scene auf, die das eigentlich wirksame Trauma war, und die auch der Scene mit dem Oberbuchhalter die traumatische Wirksamkeit verliehen hatte.
Es hatte sich wieder einige Monate vorher zugetragen, dass eine befreundete Dame auf Besuch kam, die beim Abschied beide Kinder auf den Mund küsste. Der Vater, der dabei stand, überwand sich wohl, der Dame nichts zu sagen, aber nach ihrem Fortgehen brach sein Zorn über die unglückliche Erzieherin los. Er erklärte ihr, er mache sie dafür verantwortlich, wenn jemand die Kinder auf den Mund küsse; es sei ihre Pflicht, es nicht zu dulden, und sie sei pflichtvergessen, wenn sie es zulasse. Wenn es noch einmal geschähe, würde er die Erziehung der Kinder anderen Händen anvertrauen. Es war die Zeit, als sie sich noch geliebt glaubte und auf eine Wiederholung jener ersten freundlichen Gespräches wartete. Diese Scene knickte ihre Hoffnungen. Sie sagte sich: wenn er wegen einer so geringen Sache, und wo ich überdies ganz unschuldig bin, so auf mich losfahren kann, mir solche Drohungen sagen kann, so habe ich mich geirrt, so hat er nie eine wärmere Empfindung für mich gehabt. Die würde ihn Rücksicht gelehrt haben. – Offenbar war es die Erinnerung an diese peinliche Scene, die ihr kam, als der Oberbuchhalter die Kinder küssen wollte und dafür vom Vater zurechtgewiesen wurde.
Als Miss Lucy mich zwei Tage nach dieser letzten Analyse wieder besuchte, musste ich sie fragen, was mit ihr Erfreuliches vorgegangen sei.
Sie war wie verwandelt, lächelte und trug den Kopf hoch. Einen Augenblick dachte ich daran, ich hätte doch die Verhältnisse irrig beurtheilt und aus der Gouvernante der Kinder sei jetzt die Braut des Directors geworden. Aber sie wehrte meine Vermuthungen ab: „Es ist gar nichts vorgegangen. Sie kennen mich eben nicht, Sie haben mich nur krank und verstimmt gesehen. Ich bin sonst immer so heiter.
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_103.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)