werden Sie etwas vor sich sehen oder wird Ihnen etwas als Einfall durch den Kopf gehen, und das greifen Sie auf. Es ist das, was wir suchen. – Nun, was haben Sie gesehen oder was ist Ihnen eingefallen?“
Als ich dieses Verfahren die ersten Male anwendete (es war nicht bei Miss Lucy R.), war ich selbst erstaunt, dass es mir gerade das lieferte, was ich brauchte, und ich darf sagen, es hat mich seither kaum jemals im Stich gelassen, hat mir immer den Weg gezeigt, den meine Ausforschung zu gehen hatte, und hat mir ermöglicht, jede derartige Analyse ohne Somnambulismus zu Ende zu führen. Ich wurde allmählich so kühn, dass ich den Patienten, die zur Antwort gaben: „Ich sehe nichts“ oder: „Mir ist nichts eingefallen“, erklärte: Das sei nicht möglich. Sie hätten gewiss das Richtige erfahren, nur glaubten sie nicht daran, dass es das sei, und hätten es verworfen. Ich würde die Procedur wiederholen, so oft sie wollten, sie würden jedesmal dasselbe sehen. Ich behielt in der That jedesmal Recht; die Kranken hatten noch nicht gelernt, ihre Kritik ruhen zu lassen, hatten die auftauchende Erinnerung oder den Einfall verworfen, weil sie ihn für unbrauchbar, für eine dazwischenkommende Störung hielten, und nachdem sie ihn mitgetheilt hatten, ergab es sich jedesmal, dass es der richtige war. Gelegentlich bekam ich auch die Antwort, wenn ich die Mittheilung nach dem dritten oder vierten Druck erzwungen hatte: „Ja, das habe ich schon beim ersten Mal gewusst, aber gerade das habe ich nicht sagen wollen“, oder „ich habe gehofft, das wird es nicht sein.“
Mühevoller war diese Art, das angeblich verengte Bewusstsein zu erweitern, immerhin weit mehr als das Ausforschen im Somnambulismus, aber sie machte mich doch vom Somnambulismus unabhängig und gestattete mir eine Einsicht in die Motive, die häufig für das „Vergessen“ von Erinnerungen ausschlaggebend sind. Ich kann behaupten, dieses Vergessen ist oft ein beabsichtigtes, gewünschtes. Es ist immer ein nur scheinbar gelungenes.
Vielleicht noch merkwürdiger ist mir erschienen, dass man angeblich längst vergessene Zahlen und Daten durch ein ähnliches Verfahren wiederbringen und so eine unvermuthete Treue des Gedächtnisses erweisen kann.
Die geringe Auswahl, die man bei der Suche nach Zahlen und Daten hat, gestattet nämlich, den aus der Lehre von der Aphasie bekannten Satz zur Hilfe zu nehmen, dass Erkennen eine geringere Leistung des Gedächtnisses ist als sich spontan besinnen.
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_094.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)