Als ich den somnambulen Zustand der Frau v. N. studirte, stiegen in mir zum erstenmal gewichtige Zweifel an der Richtigkeit des Satzes Bernheim’s: Tout est dans la Suggestion, und an dem Gedankengange seines scharfsinnigen Freundes Delboef „Comme quoi il n’y a pas d’hypnotisme“ auf. Ich kann es auch heute nicht verstehen, dass mein vorgehaltener Finger und das einmalige „Schlafen Sie“ den besonderen psychischen Zustand der Kranken geschaffen haben soll, in dem ihr Gedächtnis alle ihre psychischen Erlebnisse umfasste. Ich konnte den Zustand hervorgerufen haben, geschaffen habe ich ihn nicht durch meine Suggestion, da seine Charaktere, die übrigens allgemein giltige sind, mich so sehr überraschten.
Auf welche Weise hier im Somnambulismus Therapie geübt wurde, ist aus der Krankengeschichte zur Genüge ersichtlich. Ich bekämpfte, wie es in der hypnotischen Psychotherapie gebräuchlich, die vorhandenen krankhaften Vorstellungen durch Versicherung, Verbot, Einführung von Gegenvorstellungen jeder Art, begnügte mich aber nicht damit, sondern ging der Entstehungsgeschichte der einzelnen Symptome nach, um die Voraussetzungen bekämpfen zu können, auf denen die krankhaften Ideen aufgebaut waren. Während dieser Analysen ereignete es sich dann regelmässig, dass die Kranke sich unter den Zeichen heftigster Erregung über Dinge aussprach, deren Affect bisher nur Abfluss als Ausdruck von Gemüthsbewegung gefunden hatte. Wieviel von dem jedesmaligen therapeutischen Erfolg auf dies Wegsuggeriren in statu nascendi, wieviel auf die Lösung des Affectes durch Abreagiren kam, kann ich nicht angeben, denn ich habe beide therapeutischen Momente zusammenwirken lassen. Dieser Fall wäre demnach für den strengen Nachweis, dass der
Schirm gegen das Pflaster und zerbricht den Schirm.“ Sie hatte natürlich keine Ahnung davon, dass sie selbst mit soviel Witz eine unsinnige Suggestion in eine glänzend gelungene verwandelt hatte. Als ihr Zustand auf Versicherung, Gebot und Behandlung in der Hypnose sich nicht besserte, wandte ich mich an die psychische Analyse und verlangte zu wissen, welche Gemüthsbewegung dem Ausbruch des Leidens vorhergegangen war. Sie erzählte jetzt (in der Hypnose, aber ohne alle Erregung), dass kurz vorher ein junger Verwandter gestorben sei, als dessen Verlobte sie sich seit langen Jahren betrachtet habe. Diese Mittheilung änderte aber gar nichts an ihrem Zustand; in dir nächsten Hypnose sagte ich ihr demnach, ich sei ganz überzeugt, der Tod des Vetters habe mit ihrem Zustand nichts zu thun, es sei etwas anderes vorgefallen, was sie nicht erwähnt habe. Nun liess sie sich zu einer einzigen Andeutung hinreissen, aber kaum dass sie ein Wort gesagt hatte, verstummte sie, und der alte Vater, der hinter ihr sass, begann bitterlich zu schluchzen. Ich drang natürlich nicht weiter in die Kranke, bekam sie aber auch nicht wieder zu Gesichte.
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_086.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)