wurde, von einer excentrischen Mutter, die ihr idiotisches Kind auf eigenthümliche Weise pflegte, von einer Frau, die wegen Melancholie in ein Irrenhaus gesperrt wurde, und lässt so erkennen, was für Reminiscenzen durch ihren Kopf ziehen, wenn sich ihrer eine unbehagliche Stimmung bemächtigt hat. Nachdem sie sich dieser Erzählungen entledigt hat, wird sie sehr heiter, berichtet von ihrem Leben auf ihrem Gut, von den Beziehungen, die sie zu hervorragenden Männern Deutsch-Russlands und Norddeutschlands unterhält, und es fällt mit wahrlich schwer, diese Fülle von Bethätigung mit der Vorstellung einer so arg nervösen Frau zu vereinen.
In der Hypnose frage ich also: warum sie heute morgens so unruhig war, und erhalte anstatt des Bedenkens über den Lift die Auskunft, sie habe gefürchtet, die Periode werde wiederkehren und sie wiederum an der Massage stören.[1]
- ↑ Der Hergang war also folgender gewesen: Als sie am Morgen aufwachte, fand sie sich in ängstlicher Stimmung und griff, um diese Stimmung aufzuklären, zur nächsten ängstlichen Vorstellung, die sich finden wollte. Ein Gespräch über den Lift im Hause der Kinder war am Nachmittag vorher vorgefallen. Die immer besorgte Mutter hatte die Gouvernante gefragt, ob die ältere Tochter, die wegen rechtsseitiger Ovarie und Schmerzen im rechten Bein nicht viel gehen konnte, den Lift auch zum Herunterkommen benütze. Eine Erinnerungstäuschung gestattete ihr dann, die Angst, deren sie sich bewusst war, an die Vorstellung dieses Aufzuges zu knüpfen. Den wirklichen Grund ihrer Angst fand in sie ihrem Bewusstsein nicht; der ergab sich erst, aber ohne jedes Zögern, als ich sie in der Hypnose darum befragte. Es war derselbe Vorgang, den Bernheim und Andere nach ihm bei den Personen studiert haben, die posthypnotisch einen in der Hypnose ertheilten Auftrag ausführen. Z. B. Bernheim (Die Suggestion, 31 der deutschen Uebersetzung) hat einem Kranken suggerirt, dass er nach dem Erwachen beide Daumen in den Mund stecken werde. Er thut es auch und entschuldigt sich damit, dass er seit einem Biss, den er sich Tags vorher im epileptiformen Anfall zugefügt, einen Schmerz in der Zunge empfinde. Ein Mädchen versucht, der Suggestion gehorsam, einen Mordanschlag auf einen ihr völlig fremden Gerichtsbeamten; erfasst und nach den Gründen ihrer That befragt, erfindet sie eine Geschichte von einer ihr zugefügten Kränkung, die eine Rache erforderte. Es scheint ein Bedürfniss vorzuliegen, psychische Phänomene, deren man sich bewusst wird, in causale Verknüpfung mit anderem Bewussten zu bringen. Wo sich die wirkliche Verursachung der Wahrnehmung des Bewusstseins entzieht, versucht man unbedenklich eine andere Verknüpfung, an die man selbst glaubt, obwohl sie falsch ist. Es ist klar, dass eine vorhandene Spaltung des Bewusstseinsinhaltes solchen „falschen Verknüpfungen“ den grössten Vorschub leisten muss.
Ich will bei dem oben erwähnten Beispiel einer falschen Vernüpfung etwas länger verweilen, weil es in mehr als einer Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden darf. Vorbildlich zunächt für das Verhalten dieser Patientin, die mir im [56] Verlaufe der Behandlung noch wiederholt Gelegenheit gab, mittelst der hypnotischen Aufklärung solche falsche Verknüpfungen zu lösen und die von ihnen ausgehenden Wirkungen aufzuheben. Einen Fall dieser Art will ich ausführlich erzählen, weil er die in Rede stehende psychologische Thatsache grell genug beleuchtet. Ich hatte Frau Emmy v. N ... vorgeschlagen, anstatt der gewohnten lauen Bäder ein kühles Halbbad zu versuchen, von dem ich ihr mehr Erfrischung versprach. Sie leistete ärztlichen Anordnungen unbedingten Gehorsam, verfolgte dieselben aber jedesmal mit dem ärgsten Misstrauen. Ich habe schon berichtet, dass ihr ärztliche Behandlung fast niemals eine Erleichterung gebracht hatte. Mein Vorschlag, kühle Bäder zu nehmen, geschah nicht so autoritativ, dass sie nicht den Muth gefunden hätte, mir ihre Bedenken auszusprechen: „Jedesmal, so oft ich kühle Bäder genommen habe, bin ich den ganzen Tag über melancholisch gewesen. Aber ich versuche es wieder, wenn Sie wollen; glauben Sie nicht, dass ich etwas nicht thue, was Sie sagen.“ Ich verzichtete zum Schein auf meinen Vorschlag, gab ihr aber in der nächsten Hypnose ein, sie möge nur die kühlen Bäder jetzt selbst vorschlagen, sie habe es sich überlegt, wolle doch noch den Versuch wagen u. s. w. So geschah es nun, sie nahm die Idee, kühle Halbbäder zu gebrauchen, selbst am nächsten Tage auf, suchte mich mit all den Argumenten dafür zu gewinnen, die ich ihr vorgetragen hatte, und ich gab ohne viel Eifer nach. Am Tage nach dem Halbbad fand ich sie aber wirklich in tiefer Verstimmung. „Warum sind Sie heute so? – Ich habe es ja vorher gewusst. Von dem kalten Bad, das ist immer so. – Sie haben es selbst verlangt. Jetzt wissen wir, dass Sie es nicht vertragen. Wir kehren zu den lauen Bädern zurück.“ – In der Hypnose fragte ich dann: „War es wirklich das kühle Bad, das Sie so verstimmt hat.“ – „Ach, das kühle Bad hat nichts damit zu thun,“ war die Antwort, „sondern ich habe heute früh in der Zeitung gelesen, dass eine Revolution in S. Domingo ausgebrochen ist. Wenn es dort Unruhen gibt, geht es immer über die Weissen her, und ich habe einen Bruder in S. Domingo, der uns schon soviel Sorge gemacht hat, und ich bin jetzt besorgt, dass ihm nicht etwas geschieht.“ Damit war die Angelegenheit zwischen uns erledigt, sie nahm am nächsten Morgen ihr kühles Halbbad, als ob es sich von selbst verstünde, und nahm es noch durch mehrere Wochen, ohne je eine Verstimmung auf dasselbe zurückzuführen.
Man wird mir gerne zugeben, dass dieses Beispiel auch typisch ist für das Verhalten so vieler anderer Neuropathen gegen die vom Arzt empfohlene Therapie. Ob es nun Unruhen in S. Domingo oder anderwärts sind, die an einem bestimmten Tag ein gewisses Symptom hervorrufen; der Kranke ist stets geneigt, dies Symptom von der letzten ärztlichen Beeinflussung herzuleiten. Von den beiden Bedingungen, welche für’s Zustandekommen einer solchen falschen Verknüpfung erfordert werden, seheint die eine, das Misstrauen, jederzeit vorhanden zu sein; die andere, die Bewusstseinsspaltung, wird dadurch ersetzt, dass die meisten Neuropathen von den wirklichen Ursachen (oder wenigstens Gelegenheitsursachen), ihres Leidens theils keine Kenntniss haben, theils absichtlich keine Kenntniss [57] nehmen wollen, weil sie ungerne an den Antheil erinnert sind, den eigenes Verschulden daran trägt.
Man könnte meinen, dass die bei Neuropathen ausserhalb der Hysterie hervorgehobenen psychischen Bedingungen der Unwissenheit oder absichtlichen Vernachlässigung günstiger für die Entstehung einer falschen Verknüpfung sein müssen als das Vorhandensein einer Bewusstseinsspaltung, die doch dem Bewusstsein Material für causale Beziehung entzieht. Allein diese Spaltung ist selten eine reinliche, meist ragen Stücke des unterbewussten Vorstellungscomplexes in’s gewöhnliche Bewusstsein hinein, und gerade diese geben den Anlass zu solchen Störungen. Gewöhnlich ist es die mit dem Complex verbundene Allgemeinempfindung, die Stimmung der Angst, der Trauer, die, wie im obigen Beispiel, bewusst empfunden wird und für die durch eine Art von „Zwang zur Association“ eine Verknüpfung mit einem im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungscomplex hergestellt werden muss. (Vgl. übrigens den Mechanismus der Zwangsvorstellung, den ich in einer Mittheilung im Neurolog. Centralblatt, Nr. 10 u. 11, 1894, angegeben habe. Auch: Obsessions et phobies, Revue neurologique, Nr. 2, 1895.)
Von der Macht eines solchen Zwanges zur Association habe ich mich unlängst durch Beobachtungen auf anderem Gebiete überzeugen können. Ich musste durch mehrere Wochen mein gewohntes Bett mit einem härteren Lager vertauschen, auf dem ich wahrscheinlich mehr oder lebhafter träumte, vielleicht nur die normale Schlaftiefe nicht erreichen konnte. Ich wusste in der ersten Viertelstunde nach dem Erwachen alle Träume der Nacht und gab mir die Mühe, sie niederzuschreiben und mich an ihrer Lösung zu versuchen. Es gelang mir, diese Träume sämmtlich auf zwei Momente zurückzuführen: 1. auf die Nöthigung zur Ausarbeitung solcher Vorstellungen, bei denen ich tagsüber nur flüchtig verweilt hatte, die nur gestreift und nicht erledigt worden waren, und 2. auf den Zwang, die im selben Bewusstseinszustand vorhandenen Dinge mit einander zu verknüpfen. Auf das freie Walten des letzteren Momentes war das Sinnlose und Widerspruchsvolle der Träume zurückzuführen.
Dass die zu einem Erlebniss gehörige Stimmung und der Inhalt desselben ganz regelmässig in abweichende Beziehung zum primären Bewusstsein treten können, habe ich an einer anderen Patientin, Frau Cäcilie M., gesehen, die ich weitaus gründlicher als jede andere hier erwähnte Kranke kennen lernte. Ich habe bei dieser Dame die zahlreichsten und überzeugendsten Beweise für einen solchen psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene gesammelt, wie wir ihn in dieser Arbeit vertreten, bin aber leider durch persönliche Umstände verhindert, diese Krankengeschichte, auf die ich mich gelegentlich zu beziehen gedenke, ausführlich mitzutheilen. Frau Cäcilie M. war zuletzt in einem eigenthümlichen hysterischen Zustande, der gewiss nicht vereinzelt dasteht, wenngleich ich nicht weiss, ob er je erkannt worden ist. Man könnte ihn als „hysterische Tilgungspsychose“ bezeichnen. – Die Patientin hatte zahlreiche psychische Traumen erlebt und lange Jahre in einer chronischen Hysterie mit sehr mannigfaltigen Erscheinungen [58] zugebracht. Die Gründe aller dieser Zustände waren ihr und anderen unbekannt, ihr glänzend ausgestattetes Gedächtnis wies die auffälligsten Lücken auf; ihr Leben sei ihr wie zerstückelt, klagte sie selbst. Eines Tages brach plötzlich eine alte Reminiscenz in plastischer Anschaulichkeit mit aller Frische der neuen Empfindung über sie herein, und von da an lebte sie durch fast 3 Jahre alle Traumen ihres Lebens – längst vergessen geglaubte und manche eigentlich nie erinnerte – von Neuem durch mit dem entsetzlichsten Aufwand von Leiden und der Wiederkehr aller Symptome, die sie je gehabt. Diese „Tilgung alter Schulden“ umfasste einen Zeitraum von 33 Jahren und gestattete, von jedem ihrer Zustände die oft sehr complicirte Determinirung zu erkennen. Man konnte ihr Erleichterung nur dadurch bringen, dass man ihr Gelegenheit gab, sich die Reminiscenz, die sie gerade quälte, mit allem dazugehörigen Aufwand an Stimmung und deren körperlichen Aeusserungen in der Hypnose abzusprechen, und wenn ich verhindert war, dabei zu sein, so dass sie vor einer Person sprechen musste, gegen welche sie sich genirt fühlte, so geschah es einige Male, dass sie dieser ganz ruhig die Geschichte erzählte und mir nachträglich in der Hypnose all das Weinen, all die Aeusserungen der Verzweiflung brachte, mit welchen sie die Erzählung eigentlich hätte begleiten wollen. Nach einer solchen Reinigung in der Hypnose war sie einige Stunden ganz wohl und gegenwärtig. Nach kurzer Zeit brach die der Reihe nach nächste Reminiscenz herein. Diese schickte aber die dazu gehörige Stimmung um Stunden voraus. Sie wurde reizbar oder ängstlich oder verzweifelt, ohne je zu ahnen, dass diese Stimmung nicht der Gegenwart, sondern dem Zustande angehöre, der sie zunächst befallen werde. In dieser Zeit des Ueberganges machte sie dann regelmässig eine falsche Verknüpfung, an der sie bis zur Hypnose hartnäckig festhielt. So z. B. empfing sie mich einmal mit der Frage: „Bin ich nicht eine verworfene Person, ist das nicht ein Zeichen der tiefsten Verworfenheit, dass ich Ihnen gestern diess gesagt habe?“ Was sie Tags vorher gesagt hatte, war mir wirklich nicht geeignet, diese Verdammung irgendwie zu rechtfertigen; sie sah es nach kurzer Erörterung auch sehr wohl ein, aber die nächste Hypnose brachte eine Reminiscenz zum Vorschein, bei deren Anlass sie sich vor 12 Jahren einen schweren Vorwurf gemacht hatte, an dem sie in der Gegenwart übrigens gar nicht mehr festhielt.
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_055.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)