möchte darum glauben, dass sie nicht demselben psychischen Vorgang ihr Dasein dankten wie die andern Symptome, sondern der secundären Ausbreitung jenes unbekannten Zustandes, der die somatische Grundlage der hysterischen Phänomene ist.
Während des ganzen Krankheitsverlaufes bestanden die zwei Bewusstseinszustände neben einander, der primäre, in welchem Patientin psychisch ganz normal war, und der „zweite“ Zustand, den wir wohl mit dem Traum vergleichen können, entsprechend seinem Reichthum an Phantasmen, Hallucinationen, den grossen Lücken der Erinnerung, der Hemmungs- und Controlelosigkeit der Einfälle. In diesem zweiten Zustand war Patientin alienirt. Es scheint mir nun guten Einblick in das Wesen mindestens einer Art von hysterischen Psychosen zu gewähren, dass der psychische Zustand der Kranken durchaus abhängig war von dem Hereinragen dieses zweiten Zustandes in den normalen. Jede Abendhypnose lieferte den Beweis, dass die Kranke völlig klar, geordnet, und in ihrem Empfinden und Wollen normal war, wenn kein Product des zweiten Zustandes „im Unbewussten“ als Reiz wirkte; die eclatante Psychose bei jeder grössern Pause in dieser Entlastungsprocedur bewies, in welchem Ausmaasse eben diese Producte die psychischen Vorgänge des „normalen“ Zustandes beeinflussten. Es ist schwer, dem Ausdruck aus dem Wege zu gehen, die Kranke sei in zwei Persönlichkeiten zerfallen, von denen die eine psychisch normal und die andere geisteskrank war. Ich meine, dass die scharfe Trennung der beiden Zustände bei unserer Kranken ein Verhalten nur deutlich machte, das auch bei vielen andern Hysterischen Ursache so mancher Räthsel ist. Bei Anna O . . war besonders auffallend, wie sehr die Producte des „schlimmen Ichs“, wie die Kranke selbst es nannte, ihren moralischen Habitus beeinflussten. Wären sie nicht fortlaufend weggeschafft worden, so hätte man in ihr eine Hysterica von der bösartigen Sorte gehabt, widerspenstig, träge, unliebenswürdig, boshaft; während so, nach Entfernung dieser Reize, immer wieder sogleich ihr wahrer Charakter zum Vorschein kam, der von all dem das Gegentheil war.
Aber so scharf die beiden Zustände getrennt waren, es ragte nicht bloss der „zweite Zustand“ in den ersten herein, sondern es sass, wie Patientin sich ausdrückte, mindestens häufig auch bei ganz schlimmen Zuständen in irgend einem Winkel ihres Gehirns ein scharfer und ruhiger Beobachter, der sich das tolle Zeug ansah. Diese Fortexistenz klaren Denkens während des Vorwaltens der
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Leipzig und Wien: Franz Deuticke, 1895, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_036.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)