allerdings auf den schwer kranken Vater concentrirt und dadurch abgelenkt war.
Indem aber seit jener ersten hallucinatorischen Autohypnose sich die Absencen mit völliger Amnesie und begleitenden hysterischen Phänomenen häuften, vermehrten sich die Gelegenheiten zur Bildung neuer solcher Symptome und befestigten sich die schon gebildeten in häufiger Wiederholung. Dazu kam, dass allmählich jeder peinliche, plötzliche Affect ebenso so wirkte wie die Absence (wenn er nicht doch vielleicht immer momentane Absence erzeugte); zufällige Coïncidenzen bildeten pathologische Associationen, Sinnes- oder motorische Störungen, die von da an mit dem Affect zugleich wieder auftraten. Aber noch immer nur momentan, vorübergehend; bevor Patientin bettlägerig wurde, hatte sie bereits die ganze grosse Sammlung hysterischer Phänomene entwickelt, ohne dass jemand davon wusste. Erst da die Kranke, auf’s äusserste geschwächt durch die Inanition, die Schlaflosigkeit und den fortdauernden Angstaffect, völlig niedergebrochen war, als sie mehr Zeit in der „condition seconde“ sich befand, als in normalem Zustande, griffen die hysterischen Phänomene auch in diesen hinüber und verwandelten sich aus anfallsweise auftretenden Erscheinungen in Dauersymptome.
Man muss nun die Frage aufwerfen, in wie weit die Angaben der Kranken zuverlässig sind, und die Phänomene wirklich die von ihr bezeichnete Entstehungsart und Veranlassung gehabt haben. Was die wichtigern und grundlegenden Vorgänge betrifft, so steht die Zuverlässigkeit des Berichtes für mich ausser Frage. Auf das Verschwinden der Symptome, nachdem sie „aberzählt“ waren, berufe ich mich hiefür nicht; das wäre ganz wohl durch Suggestion zu erklären. Aber ich habe die Kranke immer vollkommen wahrheitsgetreu und zuverlässig gefunden; die erzählten Dinge hingen innig mit dem zusammen, was ihr das Heiligste war; alles, was einer Controlirung durch andere Personen zugänglich war, bestätigte sich vollkommen. Auch das begabteste Mädchen wäre wohl nicht im Stande, ein System von Angaben auszubauen, dem eine so grosse innere Logik eigen wäre, wie es bei der hier dargelegten Entwicklungsgeschichte ihrer Krankheit der Fall ist. Das aber ist von vorne herein nicht abzuweisen, dass sie eben in der Consequenz dieser Logik manchem Symptom eine Veranlassung zugeschoben hätte (im besten Glauben), die in Wirklichkeit nicht bestand. Aber ich halte auch diese Vermuthung nicht für richtig. Gerade die Bedeutungslosigkeit so vieler Anlässe, das Irrationale so
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Leipzig und Wien: Franz Deuticke, 1895, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_034.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)