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Seite:De Die demolirte Literatur Kraus 42.jpg

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Tischgesellschaft in Athem halten. Kein literarischer Misston stört die reine Theaterfreude dieser Menschen, kein Jung-Wiener Künstler verirrt sich hieher. Wer hat am 24. April im Stadttheater in Regensburg den dicken Herrn in der „Wildente“ gespielt? Wann trat Herr Rottmann im Burgtheater zum letztenmal auf? Diese und ähnliche Themen, sonst mit Leidenschaft erörtert, müssen doch in den Hintergrund treten, wenn die Lebensfrage auftaucht: Sind heut’ Freikarten? Jedem Schauspieler ist ein Theaterinteressent an die Seite gegeben, der ihm mit demselben Respecte zuhört, wie jener dem Kritiker des Tisches. Da gibt es pathetische Vorstadtmimen, die in der Josefstadt die Tradition des Burgtheaters aufrechthalten; da finden wir Bühnengrössen, die auf eine langjährige Wirksamkeit in der Theaterloge zurückblicken können und sich einen Ruf als Zuschauspieler des Burgtheaters gemacht haben.

Es folgen Tische, deren Verhältnis zur Literatur nur noch ein sehr gelegentliches ist. Hier sitzen Leute, deren Talent sich in den Randbemerkungen und Glossen ausgibt, mit welchen sie sämmtliche im Literatur-Café aufliegenden Zeitschriften versehen. Manche schreiben in die vornehmsten Revuen des In- und Auslandes. Diese Autoren unterzeichnen nicht mit vollem Namen, bleiben demnach dem grossen Publikum unbekannt. Gleichwohl besitzt ein jeder von ihnen seine markante Eigenart. Da ist Einer, der durch Jahre und in dem Wechsel der Richtungen, dem dieses Kaffeehaus unterworfen war, seinen Standpunkt bewahrt hat; von ihm liest man immer noch die eine Aeusserung: „Jud!“

Nicht einmal zu dieser Höhe der Production vermochte sich eine Gruppe von Jünglingen emporzuschwingen, denen nur der Vorwand, Stimmungen leicht zugänglich zu sein, ein Plätzchen im Locale der modernen Schriftsteller eingeräumt hatte. Manche unter ihnen wussten sich noch insoweit nützlich zu machen, als sie den Verkehr zwischen den einzelnen Tischen vermittelten, den Gästen Theaternachrichten zutrugen und Vielen wirklich die Lectüre der Journale ersparten. Manche wiederum schienen redlich bemüht, die freien Gewohnheiten pariserischer Bohémiens nachzuahmen; der Wille war gut, die Begabung zu schwach für das Nichtsthun. Als diese Gesellschaft eines Tages nicht mehr erschien, versicherte Heinrich in seiner feinsinnigen Weise, die Herren seien nicht nur den Beweis literarischer Fähigkeiten schuldig geblieben.

Empfohlene Zitierweise:
Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: A. Bauer, 1899, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_42.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)