Von der inneren Wirkung neuen Styls, der das Stoffgebiet erweitern half und sociale Probleme ins Rollen brachte, ist unsere junge Kunst verschont geblieben, die geradezu in der Abkehr von den geistigen Kämpfen der Zeit ihr Heil sucht. Wenn Gedankenarmuth in Stimmungen schwelgen will, muss das Wienerthum für die Farbe herhalten, und der Localpatriotismus erwacht zu neuem, sensitiverem Dasein.
Ueber den vielen Kaffeehaussitzungen, die zum Zwecke einer endgiltigen Formulirung des Begriffes „Künstlermensch“ abgehalten wurden, sind so manche dieser Schriftsteller nicht zur Production gekommen. Bevor man sich nicht über eine Definition geeinigt hatte, wollte sich keiner an die Arbeit trauen, und manche hatten sich längst als Stammgäste einen Namen gemacht, bevor sie dazu kamen, sich ihn durch ihre Werke zu verscherzen. Griensteidl ist nun einmal der Sammelpunkt von Leuten, die ihre Fähigkeiten zersplittern wollen, und man darf sich über die Unfruchtbarkeit von Talenten nicht wundern, welche so dicht an einem Kaffeehaustisch beisammen sitzen, dass sie einander gegenseitig an der Entfaltung hindern.
Bis heute war in diesen Kreisen eine affectirte Beziehung zur Kunst vorgeschrieben, und das eigenartige Können der Jung-Wiener Dichter besteht darin, dass sie ein grosses Interesse für lebemännische Alluren an den Tag legen, dass sie im Stande sind, von den Eindrücken eines Ronacher-Abends durch Wochen zu zehren, die Komik eines Clowns mit Behagen zu geniessen und bei jedesmaligem Zusammensein die ältesten Anekdoten auszutauschen. Derselbe Geist, wenn er aus solcher Lebensfülle in beschauliches Alleinsein flieht, findet Stimmungstrost in dem Gedanken an die „stillen Gassen am Sonntag-Nachmittag“ und an das „unsäglich traurige Praterwirthshaus an Wochentagen“ – immer wiederkehrende sentimentale Wahnvorstellungen, die diesen rührend engen Horizont ausfüllen. Auch haben sie in Wien einige Oertlichkeiten gepachtet, in die sie ihre ganze eigene Empfindungswelt einspinnen. So müssen die Fischerstiege, der Heiligenkreuzerhof, die Votivkirche und die Karlskirche ihren Bedarf an Stimmungen decken. „Die Karlskirche gehört mir!“ rief einer eines Tages, da der Tischnachbar sie ihm streitig machen wollte. Als letzterer sich mit dem Wienufer zufrieden gab, war der Grenzstreit der Stimmungen friedlich beigelegt.
Der am tiefsten in diese Seichtigkeit taucht und am vollsten in
Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: A. Bauer, 1899, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_31.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)