nichts“; jetzt ist Heinrich schon eingeweiht und sagt immer gleich von selbst: „Herr Doctor – wie gewöhnlich.“ Nur selten kommt es vor, dass Heinrich in seiner feinsinnigen Weise in den Bart brummt: „Zum Anregungenholen allein ist das Kaffeehaus nicht da“, aber sonst kann unser Gast mit der Bedienung zufrieden sein; er müsste sich beklagen, wenn sie zu aufmerksam wäre. Man hilft ihm nicht von seinem Hut und schweren Winterrock, und lässt ihn stundenlang Vorträge über die Bedeutung der ihm Zuhörenden halten. So steht er da, Begeisterung schlürfend, heftig gesticulirend: er wäre ein grosser Schmock geworden, auch wenn er ohne Hände auf die Welt gekommen wäre.
Die Jung-Wiener Dichtergalerie besitzt einen Charakterkopf, der sehr hübsche Ansätze zu einem Dulderantlitz zeigt. Dieser Decadent (Abtheilung für Lyriker) ist durch drei stattliche Gedichtbände, in denen er bewiesen hat, dass er verwelkte Nerven besitzt, für den literarischen Tisch legitimirt. „Neurotica“ wurden confiscirt und hatten „Sensationen“, diese aber „Gelächter“ im Gefolge. Die echte Dichtergabe, aus minimalen Erscheinungen ungeahnte Anregung zu ziehen, ihm ist sie nie versagt geblieben. Stets hat er um mehrere Grade höher gedichtet als erlebt, und wenn man sich nach den Urheberinnen seiner Ekstasen erkundigte, konnte man staunend erfahren, was so ein dämonisches Weib für Minderbemittelte alles imstande ist, wenn es von einem modernen Lyriker empfunden wird. Einst gab er vor, „Alles, was seltsam und krank“, zu lieben. Die Kritik glaubte indess, den Sitz seines Leidens in der Lectüre Baudelaire’s gefunden zu haben, verordnete ihm strengste Diät und untersagte ihm jede Manierirtheit. Er nun, aus Furcht, in eine unheilbare Gesundheit zu verfallen, kehrte sich an diese Massregeln nicht. Hektische Verse flössten ihm Wohlbehagen ein, er erwarb ein literarisches Wappen, in welchem sich eingezeichnet finden: ein Herz, das müd und alt, ein Sinn, der welk und kalt, sowie ein Strauss schwindsüchtiger Tuberosen, mit heimlichen Nerven umwunden. Der Erfolg enthebt ihn aller Reuepflichten, und bei seiner Jugend ist er schon heute ein geübter und tüchtiger Greis.
Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: Wiener Rundschau, 1897, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_17.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)