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Seite:De DZfG 1890 03 026.jpg

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noch eine weitere, ziemlich unbestimmte Perspective, indem er bemerkt, Athen sei eben gewissermassen alt geworden. „The Demostenic Athenian of 360 B. C. had as it were grown old[1]“. Dass der veränderte Geist des Demosthenischen Athens wesentlich auch mit Veränderungen zusammenhängt, welche die ganze Structur der bürgerlichen Gesellschaft erlitten hatte, davon erhält man keine Ahnung.

Der Schüler Ricardo’s konnte eben unmöglich einen Blick dafür haben, was es für Athen zu bedeuten hatte, dass jenes ehrenfeste und wehrhafte Bürgerthum früherer Zeit, jenes starke Bauernthum, wie es uns in den Prachtgestalten des Dramas und der älteren Comödie entgegentritt, „hart wie Eichenholz, spröde wie Ahorn“, in Folge zerstörender Krisen der Landwirthschaft, in Folge der Invasion des städtischen Capitals in den Grundbesitz und der Ausbeutung durch die Geldspeculation zum grossen Theil seinen Untergang gefunden, dass die Geldherrschaft, – um ein treffendes Wort Plato’s zu gebrauchen – den Staat mit Drohnen und Bettlern erfüllte. Vom Standpunkt der Bourgeois-Nationalökonomie konnte das Athen des 4. Jahrhunderts mit seinem glänzenden gewerblichen Aufschwung und seinem steigenden Reichthum in wirthschaftlicher Hinsicht nur günstige Vorstellungen erwecken. Dass gerade an diesem Athen das manchesterliche Ideal der schwachen Regierung und des wohlhabenden Volkes, der Atomisirung der Gesellschaft und der Anarchie des wirthschaftlichen Wettbewerbs seine verhängnissvollen Wirkungen gezeigt hat, das kommt der Groteschen Geschichtschreibung nicht zum Bewusstsein. –

Und doch handelt es sich bei alledem um Erscheinungen, in denen der eminente Bildungswerth der antiken Geschichte so recht deutlich zu Tage tritt. Nur wer die principiellen Mängel übersieht, welche die Geschichtsauffassung Grote’s nach dieser Seite hin zeigt, kann mit einem grossen akademischen Genossen Grote’s der Ansicht sein, dass die History of Greece „als politische Geschichte wahrscheinlich für immer einzig und unerreicht bleiben werde“[2]. Wir verkennen die Vorzüge des grossen Werkes nicht, aber sie sollen uns nicht länger über die Thatsache hinwegtäuschen,

  1. Ebenda Bd. XI p. 82.
  2. Döllinger, Akademische Vorträge II S. 176. Nekrolog der Münchener Akademie.
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_026.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)