Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft | |
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Dass die hier der Hellenischen Demokratie zugeschriebene Homogenität der Gesinnungen und Interessen in der That vorhanden sein musste, wenn dieselbe eine Verwirklichung der Idee der „reinen“ Demokratie (pure democracy) darstellen sollte, leuchtet ein. Denn wenn gemäss dem Princip der Volkssouveränität der Wille des Staates die Gesammtheit aller Einzelwillen darstellt, so ist die nothwendige Bedingung für die innere Einheit des Staatswillens die Identität des Interesses aller Einzelnen. Wo hätte aber jemals in der wirklichen Republik, im geschichtlichen Staat diese Identität der Interessen bestanden? Schuf nicht allein der Gegensatz von Besitzenden und Nichtbesitzenden Interessen, die sich gegenseitig ausschlossen und die eben dadurch, dass sie sich naturgemäss den Staatswillen dienstbar zu machen suchten, der reinen Verwirklichung des Gedankens der Volkssouveränität feindlich entgegenstanden? Ist nicht die innere und äussere Geschichte des demokratischen Athens – von anderen Hellenischen Staaten ganz zu schweigen – ein fortlaufender Commentar zu dieser das gesammte Volks- und Staatsleben beherrschenden Thatsache der Gesellschaftsordnung, die selbst Grote bei der Darstellung der geschichtlichen Vorgänge im Einzelnen nicht völlig ignoriren kann? – Mit Grote’s eigenen Anschauungen, z. B. über die nachtheiligen Einflüsse des Interesses der Besitzenden auf die Athenische Geschworenenjustiz[1], mit der zeitweilig nicht minder fühlbaren Abhängigkeit der Dikasterien von dem Interesse der nichtbesitzenden Volksclasse steht es doch sehr wenig im Einklang, wenn Grote meint, selbst falsche Aussprüche der Volksgerichte hätten der öffentlichen Meinung Athens niemals als ungerecht erscheinen können, weil die Ursachen solcher Verirrungen der Justiz immer nur in Empfindungen wurzelten, welche mit den Geschwornen die Gesammtheit der Bürgerschaft theilte![2] Eine Ansicht, die allerdings
- ↑ W. R. a. a. O. S. 302. Grote hat sich zu diesen Ausführungen allerdings halb wider Willen durch den Widerspruch gegen Mitford’s Auffassung von dem proletarischen Charakter der Dikasterien hinreissen lassen, und er hat sie, obwohl sie bis zu einem gewissen Grade nur zu berechtigt sind, in seinem Geschichtswerk nicht wiederholt.
- ↑ Hist. of Gr. Bd. V p. 526. And as the verdicts of the dikasts, even when wrong, depended upon causes of misjudgement common to them
submit to the same legislators, whom the middling classes themselves, if they voted apart and voted secretly, would single out.
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_007.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)