Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft | |
|
Eine ideale Forderung, nur einem Ranke erfüllbar! Andere Sterbliche werden wohl bei der gewohnten Arbeitsteilung nach Epochen weniger Erkenntniss zu verlieren fürchten, als wenn sie es unterliessen, die Einzelheit aus der gleichzeitigen Cultur zu begreifen: Freeman selbst hat mit schönstem Erfolge aus Ortsbeschreibung, Kunst und Sprache die Staatsgeschichte erhellt; und die heutige Wissenschaft schreitet offenbar in der Richtung fort, dass man Recht, Wirthschaft, Kirche, Literatur, Philosophie, Volksglauben und Zustand der Nachbarländer in der betreffenden Periode zur Erklärung eines zeitlich und örtlich begrenzten Stoffes benutzt. Ja, der Vergleich angeblich ähnlicher Gestalten oder Ereignisse in grundverschiedenen Epochen führt oft irre[1] und bringt selten mehr als ein blosses Hilfsmittel der Darstellung. – Der Satz: „Geschichte ist vergangene Politik, Politik gegenwärtige Geschichte“, drückt zunächst zwar harmlos die Einheit der Geschichte aus, die innerlich keine Abschnitte kennt – übrigens empfiehlt Freeman, zum pädagogischen Zweck mit 407 das Mittelalter zu beginnen –; allein der Satz birgt auch eine m. E. gefährliche Verwechslung von Wissenschaft des Vergangenen und künstlerischem Schaffen des Zukünftigen; diese Verquickung der Geschichte mit der Moral verleiht zwar der englischen Geschichtsschreibung die Kraft, den Charakter zu veredeln, verführt aber in der Darstellung leicht zum Prophetenton und lässt das ethisch Gleichgültige als trockenen Stoff gern bei Seite liegen.
Von Schriftstellern über das Mittelalter preist Verf. Stubbs und Waitz am höchsten, verehrt als Lehrmeister Kemble, Guest, Willis Palgrave, charakterisirt ausserdem Gibbon, Finlay, Milman, Hallam und bekennt sich in der Darstellung als Macaulay’s Schüler. Nachdrücklich wird vor Blackstone’s und Thierry’s Irrthümern[2] über die Geschichte des 11. Jh.s gewarnt; wenn dies Fachleuten gegenüber heute unnöthig erscheint, so ist das gerade Freeman’s früheres Verdienst.
Die gewählten Beispiele betreffen bisweilen das Mittelalter[3]: so wird Gregor von Tours kräftig geschildert, und die Schweizer Freiheit von der Bergnatur abgeleitet. Manchmal wird englisches Mittelalter gestreift: die Hintersassen des Grossguts waren nicht alle von Anbeginn Unfreie; die „sächsische“ Baukunst ist die allgemein frühromanische; agsächs. Namen bei Normannen stammen wahrscheinlich von agsächs. Pathen; die Theorie, dass alles englische Land unter
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_194.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2022)