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Seite:Das Stundenbuch (Rilke) 053.jpg

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einst meine junge Mutter kränkte,
als sie mich trug,
und daß ihr Herz, das eingeengte,

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sehr schmerzhaft an mein Keimen schlug.


Jetzt bin ich wieder aufgebaut
aus allen Stücken meiner Schande
und sehne mich nach einem Bande,
nach einem einigen Verstande,

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der mich wie ein Ding überschaut, –

nach deines Herzens großen Händen –
(o kämen sie doch auf mich zu)
ich zähle mich, mein Gott, und du,
du hast das Recht, mich zu verschwenden.


Ich bin derselbe noch, der kniete
vor dir in mönchischem Gewand:
der tiefe, dienende Levite,
den du erfüllt, der dich erfand.

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Die Stimme einer stillen Zelle,

an der die Welt vorüberweht, –
und du bist immer noch die Welle,
die über alle Dinge geht.

Es ist nichts andres. Nur ein Meer,

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aus dem die Länder manchmal steigen.

Es ist nichts andres denn ein Schweigen
von schönen Engeln und von Geigen,
und der Verschwiegene ist der,
zu dem sich alle Dinge neigen

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von seiner Stärke Strahlen schwer.
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_053.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)