von der Gegend des Deiches her der gellende Ruf eines Seevogels, der hoch durch die Luft dahin fuhr. Da mein Ohr einmal geweckt war, so vernahm ich nun auch aus der Ferne das Branden der Wellen, die in der hellen Nacht sich draußen über der wüsten geheimnißvollen Tiefe wälzten und von der kommenden Fluth dem Strande zugeworfen wurden. Ein Gefühl der Oede und Verlorenheit überfiel mich; fast ohne es zu wissen, stieß ich Anne Lenes Namen hervor und streckte beide Arme nach ihr aus.
„Marx, was ist Dir?“ rief sie und wandte sich nach mir um, „hier bin ich ja!“
„Nichts, Anne Lene,“ sagte ich, „aber gieb mir Deine Hand; ich hatte das Meer vergessen, da hörte ich es plötzlich!“
Wir standen auf einem freien Platze vor dem alten Gartenpavillon, dessen Thüren offen in den zerbrochenen Angeln hingen. Der Mond schien auf Anne Lenes kleine Hand, die ruhig in der meinen lag. Ich hatte nie das Mondlicht auf einer Mädchenhand gesehen, und mich überschlich jener Schauer, der aus dem Verlangen nach Erdenlust und dem schmerzlichen
Theodor Storm: Auf dem Staatshof. Braunschweig: George Westermann, 1891, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Storm_Auf_dem_Staatshof_60.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)