sich nur ein Einfältiger fürchten. Die jetzige Cultur hat Machtmittel genug, um sich zu vertheidigen.
Die niederen Einwendungen sind zahllos, wie es ja auch mehr niedere Menschen gibt als hohe. Einige beschränkte Vorstellungen versuchte ich niederzuringen. Wer sich hinter die weisse Fahne mit den sieben Sternen stellen will, muss mithelfen in diesem Aufklärungs-Feldzug. Vielleicht wird der Kampf zuerst gegen manche böse, engherzige, beschränkte Juden geführt werden müssen.
Wird man nicht sagen, dass ich den Antisemiten Waffen liefere? Warum? Weil ich das Wahre zugebe? Weil ich nicht behaupte, dass wir lauter vortreffliche Menschen unter uns haben?
Wird man nicht sagen, dass ich einen Weg zeige, auf dem man uns schaden könnte? Das bestreite ich auf das Entschiedenste. Was ich vorschlage, kann nur ausgeführt werden mit freier Zustimmung der Judenmehrheit. Es kann gegen einzelne, selbst gegen die Gruppen der jetzt mächtigsten Juden gemacht werden – aber nie und nimmermehr vom Staat aus gegen alle Juden. Man kann die gesetzliche Gleichberechtigung der Juden, wo sie einmal besteht, nicht mehr aufheben; denn schon die einleitenden Versuche würden sofort alle Juden, Arm und Reich, den Umsturzparteien zujagen. Schon der Beginn officieller Ungerechtigkeiten gegen die Juden hat überall wirthschaftliche Krisen im Gefolge. Man kann also eigentlich wenig Wirksames gegen uns thun, wenn man sich nicht selbst weh thun will. Dabei wächst und wächst der Hass. Die Reichen spüren davon nicht viel. Aber unsere Armen! Man frage unsere Armen, die seit der Erneuerung des Antisemitismus furchtbarer proletarisirt wurden, als je vorher.
Werden einige Wohlhabende meinen, der Druck sei noch nicht gross genug für die Auswanderung, und selbst bei gewaltsamen Judenaustreibungen zeige sich, wie ungern unsere Leute gingen? Ja, weil sie nicht wissen, wohin! Weil sie nur aus einem Elend in’s andere kommen. Aber wir zeigen ihnen den Weg in das Gelobte Land. Und mit der schrecklichen Macht der Gewohnheit muss die herrliche Macht der Begeisterung ringen.
Die Verfolgungen sind nicht mehr so bösartig wie im Mittelalter? Ja, aber unsere Empfindlichkeit ist gewachsen, so dass wir keine Verminderung der Leiden spüren. Die lange Verfolgung hat unsere Nerven überreizt.
Und wird man noch sagen: die Unternehmung sei hoffnungslos, selbst wenn wir das Land und die Souveränetät bekommen – weil nur die Armen mitgehen werden? Gerade die brauchen wir zuerst! Nur die Desperados taugen zum Erobern.
Wird Jemand sagen: Ja, wenn das möglich wäre, hätte man es schon gemacht?
Theodor Herzl: Der Judenstaat, Berlin und Wien 1896, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Herzl_Judenstaat_84.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)